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Unverkäufliche Leseprobe aus:Ursula K. Le GuinFreie GeisterAlle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung desVerlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

EINSANARRES URRASEs gab eine Mauer. Sie wirkte nicht wichtig. Sie bestand ausunbehauenem Stein und grobem Mörtel. Erwachsene konntenohne weiteres über sie hinwegblicken, und selbst Kinder konnten hinüberklettern. Wo sie die Straße kreuzte, hatte sie keinTor, sondern verkümmerte zu bloßer Geometrie, einer Linie,einer vorgestellten Grenze. Aber die Vorstellung war real. Siewar wichtig. Seit sieben Generationen hatte es nichts Wichtigeres auf der Welt gegeben als diese Mauer.Wie alle Mauern war sie zwiespältig, zweischneidig. Was innen war und was außen, hing davon ab, auf welcher Seite mansich befand.Von einer Seite betrachtet, umschloss die Mauer ein karges,sechzig Morgen großes Feld mit dem Namen Anarres-Hafen.Auf dem Feld standen zwei große Brückenkräne, eine Raketenrampe, drei Lagerhäuser, eine Lastwagengarage und ein Schlafhaus. Das Schlafhaus wirkte solide, schmutzig und traurig; eshatte keinen Garten, nirgends Kinder; offensichtlich war es weder zum Wohnen noch für einen längeren Aufenthalt gedacht.Vielmehr war es eine Quarantänestation. Die Mauer sperrtenicht nur das Landungsfeld ein, sondern auch die Schiffe, dieaus dem Weltraum kamen, und die Männer, die mit den Schiffen kamen, und die Welten, aus denen sie kamen, und den Restdes Universums. Sie umschloss das Universum und ließ Anarres draußen, frei.Von der anderen Seite betrachtet, umgrenzte die MauerAnarres: Der ganze Planet lag hinter ihr, ein großes Gefan7

genenlager, abgeschnitten von anderen Welten und anderenMenschen, in Quarantäne.Auf der Straße liefen ein paar Menschen in Richtung Landungsfeld oder standen bereits dort herum, wo die Straße dieMauer schnitt.Aus der nahe gelegenen Stadt Abbenay kamen häufig Leute,weil sie ein Raumschiff oder schlicht die Mauer sehen wollten. Schließlich war es die einzige Grenzmauer auf ihrer Welt.Nirgendwo sonst gab es ein Schild mit der Aufschrift Zutrittverboten. Vor allem Jugendliche fühlten sich von der Mauerangezogen. Sie traten dicht heran; sie setzten sich obendrauf.Manchmal war am Lagerhaus ein Trupp zu sehen, der Kisten aus Kettenfahrzeugen entlud. Manchmal stand sogar einFrachtschiff auf der Rampe. Frachtschiffe landeten nur achtmal im Jahr, unangekündigt, sodass niemand außer den imHafen arbeitenden Syndiks Bescheid wusste, und wenn dieZuschauer das Glück hatten, eins zu sehen, waren sie ganz aufgeregt – im ersten Moment. Doch dann saßen sie da, und esstand da, ein plumper schwarzer Turm inmitten eines Gewirrsaus beweglichen Kränen, weit hinten auf dem Feld. Und dannkam eine Frau von einer der Lagerhauskolonnen zu ihnen undsagte: »Wir machen jetzt dicht für heute, Brüder.« Sie trug dasSchutzarmband, ein Anblick, der beinahe so selten war wie einRaumschiff. Das war immerhin etwas. Und ihr Ton war zwarsanft, aber entschieden. Sie war der Vormann dieser Kolonne,und wenn man sie provozierte, rief das ihre Syndiks auf denPlan. Außerdem gab es nichts zu sehen. Die Fremdlinge, dieAußerweltler, blieben in ihrem Schiff verborgen. Ein Trauerspiel.Auch für die Schutzkolonne war es ein langweiliges Spiel.Manchmal wünschte sich der Vormann, es würde einfach maljemand versuchen, die Mauer zu überwinden, ein transplanetarisches Besatzungsmitglied, das fliehen wollte, oder ein Jugend8

licher aus Abbenay, der sich einzuschleichen versuchte, um dasFrachtschiff näher anzuschauen. Aber das geschah nicht. Esgeschah nie etwas. Als dann doch etwas geschah, traf es sie unvorbereitet.Der Kapitän des Frachtschiffs Respekt fragte sie: »Geht dieMeute auf mein Schiff los?«Der Vormann sah sich um. Am Tor lungerte tatsächlich eineMenschenmenge herum, hundert Personen oder mehr. Siestanden da, einfach so, wie die Leute damals während der Hungersnot an den Naturalienbahnhöfen. Der Vormann erschrak.»Nein. Sie – äh – protestieren«, sagte sie in ihrem langsamen,lückenhaften Jotisch. »Gegen den – Dings. Den Passagier?«»Du meinst, sie haben was gegen diesen Kanaken, den wirmitnehmen sollen? Werden sie versuchen, ihn aufzuhalten –oder uns?«Das Wort »Kanake«, unübersetzbar in die Sprache des Vormanns, war für sie nichts weiter als ein fremder Begriff für ihrVolk, aber der Klang hatte ihr noch nie gefallen, ebenso wenigwie der Ton des Kapitäns oder der Kapitän selbst. »Könnt ihrauf euch aufpassen?«, fragte sie knapp.»Teufel, ja. Sorgt ihr einfach dafür, dass der Rest der Frachtentladen wird. Schnell. Und bringt den Kanaken an Bord. Wirlassen uns nicht von einer Meute komischer Käuze auf der Naserumtanzen.« Er klopfte auf das Ding, das er am Gürtel trug,und sah die unbewaffnete Frau herablassend an.Sie streifte den phallischen Gegenstand, von dem sie wusste,dass es eine Waffe war, mit einem kalten Blick. »Das Schiff wirdum vierzehn Uhr beladen sein«, sagte sie. »Die Besatzung sollan Bord bleiben, in Sicherheit. Start um vierzehn Uhr vierzig.Wenn ihr Hilfe braucht, sprecht bei der Bodenkontrolle aufBand.« Und sie schritt davon, bevor der Kapitän sich aufspielen konnte. In ihrem Zorn war sie forscher gegenüber ihrerKolonne und der Menge. »Macht die Straße frei!«, befahl sie,9

als sie sich der Mauer näherte. »Hier kommen Laster durch,nachher tut sich jemand weh. Geht zur Seite!«Die Männer und Frauen in der Menge diskutierten mit ihrund miteinander. Sie liefen immer wieder über die Straße, undeinige betraten das Flugfeld. Aber die Straße machten sie mehroder weniger frei. Wenn der Vormann keine Erfahrung darinbesaß, eine Menschenmasse zu lenken, so besaßen sie keine Erfahrung darin, eine zu bilden. Sie waren Glieder einer Gemeinschaft und nicht Elemente eines Kollektivs und wurden dahernicht vom Massengefühl geleitet; unter ihnen gab es ebensoviele Emotionen wie Personen. Und da sie von Befehlen nichterwarteten, dass sie willkürlich waren, hatten sie keine Übungdarin, sich ihnen zu widersetzen. Ihre Unerfahrenheit rettetedem Passagier das Leben.Einige der Leute waren gekommen, um einen Verräter zutöten. Andere um seine Ausreise zu verhindern oder ihn zubeschimpfen oder schlicht, um ihn zu sehen; und diese vielenanderen versperrten den Attentätern ihren kurzen, direktenWeg. Eine Schusswaffe trug keiner von ihnen bei sich, aber einpaar hatten Messer. Ein Angriff war für sie etwas Physisches;sie wollten den Verräter mit den eigenen Händen packen. Sierechneten damit, dass er mit einem Fahrzeug kommen würde,gut bewacht. Während sie noch versuchten, einen Güterlasterzu inspizieren, und sich mit dem empörten Fahrer stritten, kamder Mann, den sie suchten, zu Fuß die Straße hinauf, allein. Alssie ihn erkannten, war er schon halb über das Feld und vonfünf Schutz-Syndiks abgeschirmt. Die Leute, die ihm ans Lebenwollten, nahmen – zu spät – die Verfolgung auf und warfen –nicht ganz zu spät – mit Steinen. Sie erwischten ihr Opfer indem Moment, als er das Schiff erreichte, noch knapp am Arm,aber ein Mitglied der Schutzkolonne wurde von einem kiloschweren Feuerstein am Kopf getroffen und war auf der Stelletot.10

Am Schiff wurden die Luken geschlossen. Die Schutzkolonne kehrte um, den toten Kameraden auf den Armen; sieunternahmen nichts, um die Anführer der Menge aufzuhalten,die auf das Schiff zurasten. Nur der Vormann, bleich vor Zornund Entsetzen, beschimpfte die Leute laut, während sie vorbeirannten, und sie wichen ihr in einem weiten Bogen aus. Als siedas Schiff erreichten, zerstreuten sich die vorderen und blieben unentschlossen stehen. Die Stille des Schiffes, die abrupten Bewegungen der riesigen skelettartigen Kräne, die seltsamverbrannte Erde, das Fehlen jeglicher menschlichen Dimension verwirrte sie. Ein Dampf- oder Gasstoß aus einem Klotz,der mit dem Schiff verbunden war, ließ einige zusammenfahren; sie blickten beunruhigt zu den Raketen auf, gigantischenschwarzen Röhren über ihren Köpfen. In der Ferne, weit überdem Feld, heulte eine Warnsirene. Ein Erster trat den Rückzugzum Tor an, dann ein Zweiter. Keiner hielt sie auf. Nach zehnMinuten war das Feld geräumt, die Menge auf der Straße inRichtung Abbenay versprengt. Alles sah wieder aus, als wärenichts passiert.Im Innern der Respekt herrschte reger Betrieb. Da die Bodenkontrolle den Start vorverlegt hatte, mussten sämtlicheKontrollen mit doppelter Geschwindigkeit durchgepeitschtwerden. Der Kapitän hatte befohlen, den Passagier im Mannschaftsraum festzuschnallen und mit dem Arzt zusammendort einzuschließen, damit sie aus dem Weg waren. In demRaum gab es einen Sichtschirm, sie konnten also beim Startzuschauen, wenn sie wollten.Der Passagier schaute zu. Er sah das Feld und die Mauer umdas Feld und weit außerhalb der Mauern die fernen Hänge derNe-Theras-Kette, gesprenkelt mit Holumsträuchern und spärlichem silbrigem Monddorn.Das alles rauschte blendend hell über den Sichtschirm.Der Passagier spürte, wie sein Kopf ins Polster der Rücken11

lehne gepresst wurde. Es war wie beim Zahnarzt, der Kopfnach hinten gedrückt, der Kiefer gewaltsam aufgerissen. Erbekam keine Luft, ihm wurde übel, in seinem Bauch rumortedie Angst. Sein gesamter Körper schrie den ungeheuren Kräften, die auf ihn einwirkten, entgegen: Jetzt nicht, noch nicht,wartet!Die Augen waren seine Rettung; was sie beharrlich aufnahmen und meldeten, erlöste ihn vom Autismus der Angst. Dennjetzt bot der Sichtschirm einen seltsamen Anblick, eine große,fahle Felsebene. Es war die Wüste, von den Bergen über demGroßtal aus betrachtet. Wie war er wieder ins Großtal gekommen? Er versuchte sich zu sagen, dass er sich in einem Luftschiffbefand. Nein, einem Raumschiff. Am Rand der Ebene blitztehelles Licht wie über Wasser, Licht über einem fernen Meer. Indiesen Wüsten gab es kein Wasser. Was also sah er da? Die Felsebene war nicht mehr platt, sondern hohl, eine riesige Schalevoller Sonnenlicht. Während er sie staunend betrachtete, wurdesie flacher, und das Licht strömte hinaus. Auf einmal schossquer hinüber ein Strich, abstrakt, geometrisch, ein perfekterKreisschnitt. Hinter dem Bogen lag Schwärze. Die Schwärzeverkehrte das ganze Bild ins Negative. Der feste, felsige Teil warnicht mehr konkav und von Licht erfüllt, sondern konvex. Erreflektierte das Licht, warf es zurück. Was Shevek sah, war weder eine Ebene noch eine Schale, sondern eine Kugel, ein Ballaus weißem Fels, der in Schwärze stürzte, in Schwärze versank.Es war seine Welt.»Das verstehe ich nicht«, sagte er laut.Jemand antwortete ihm. Er brauchte einen Augenblick, umzu begreifen, dass der Mensch, der neben seinem Sessel stand,mit ihm sprach, ihm antwortete, denn er wusste nicht mehr,was eine Antwort war. Nur eines nahm er deutlich wahr: dieeigene vollständige Isolation. Die Welt war unter ihm versunken, und er war ganz und gar allein.12

Er hatte immer befürchtet, dass es so kommen würde, mehrals er jemals den Tod gefürchtet hatte. Sterben hieß, sein Ich zuverlieren und sich mit den anderen zu vereinigen. Er hatte seinIch behalten und die anderen verloren.Nach einer Weile gelang es ihm aufzublicken und den Mannneben sich anzuschauen. Es war natürlich ein Fremder. Vonnun an würde es nur noch Fremde geben. Er sprach eine fremdeSprache: Jotisch. Die Worte ergaben einen Sinn. Sämtliche Einzelheiten ergaben einen Sinn, bloß das Ganze nicht. Der Mannsagte etwas über die Gurte, die ihn an den Sessel fesselten. Erlegte Hand an. Der Sessel richtete sich mit einem Ruck auf,und weil ihm so schwindelig war, fiel Shevek beinahe hinaus.Der Mann fragte immer wieder, ob jemand verletzt worden sei.Von wem redete er? »Ist er sicher, dass er nicht verletzt ist?« ImJotischen war die höfliche Form der Anrede die dritte Person,er oder sie. Der Mann meinte ihn. Er wusste nicht, wieso erverletzt sein sollte; der Mann sagte immer wieder etwas überSteine, die geworfen worden seien. Aber der Stein wird niemalstreffen, dachte er. Er schaute wieder auf den Sichtschirm, nachdem Stein, dem weißen Stein, der durch die Finsternis stürzte,aber der Sichtschirm war leer.»Mir geht es gut«, sagte er schließlich aufs Geratewohl.Das beruhigte den Mann nicht. »Bitte kommen Sie mit mir.Ich bin Arzt.«»Es geht mir gut.«»Bitte kommen Sie mit mir, Dr. Shevek!«»Sie sind Arzt«, sagte Shevek nach einer Pause. »Ich nicht.Ich heiße Shevek.«Der Arzt, ein kleiner, hellhäutiger, glatzköpfiger Mann, verzog ängstlich das Gesicht. »Sie sollten in Ihrer Kabine sein,Herr – Ansteckungsgefahr – , Sie sollten zwei Wochen lang mitniemandem außer mir Kontakt haben. Ich habe mich nicht fürnichts und wieder nichts einer zwei Wochen währenden Desin13

fektion unterzogen. Gott verfluche den Kapitän! Bitte kommenSie mit, Herr. Man wird mich zur Verantwortung ziehen «Shevek erkannte, dass der kleine Mann beunruhigt war. Erempfand weder Bedauern noch Mitgefühl; doch selbst hier, inseiner absoluten Einsamkeit, behielt das eine Gesetz, nach demer sich je gerichtet hatte, seine Gültigkeit. »Gut«, sagte er undstand auf.Ihm war noch immer schwindelig, und seine rechte Schulter schmerzte. Er wusste, dass sich das Schiff bewegte, aber eswar keinerlei Bewegung zu spüren; nur eine Stille war da, eineschreckliche, absolute Stille draußen hinter den Wänden. DerArzt führte ihn durch totenstille Metallkorridore zu einemZimmer.Es war ein sehr kleines Zimmer, mit Nähten in den kahlenWänden. Es stieß Shevek ab, weil es ihn an einen Ort erinnerte,an den er sich nicht erinnern wollte. Er blieb an der Tür stehen.Aber der Arzt bat und drängte, und so trat er schließlich ein.Noch immer duselig und benommen, setzte er sich auf dasin die Wand gebaute Bett und beobachtete teilnahmslos denArzt. Eigentlich hätte er neugierig sein müssen, dachte er; dieser Mann war der erste Urrasier, den er je gesehen hatte. Aberer war zu müde. Wenn er sich ausstreckte, würde er sofort einschlafen.Er hatte die ganze vorige Nacht gebraucht, um seine Papierezu ordnen. Vor drei Tagen hatte er Takver und die Kinder nachFrieden-und-Fülle verabschiedet, und von da an war er unablässig beschäftigt gewesen. Im Funkturm hatte er letzte Neuigkeiten mit Leuten auf Urras ausgetauscht, und mit Bedap undden anderen hatte er Pläne und Eventualitäten erörtert. Während dieser gehetzten Tage, und überhaupt seit Takvers Abreise,war er für sein Empfinden kein Handelnder gewesen, sondernnur ein ausführendes Organ. Er war in den Händen anderergewesen. Sein eigener Wille hatte nicht agiert. Dazu hatte keine14

Notwendigkeit bestanden. Sein Wille war es, der einst alles inGang gesetzt und ihn zu diesem Moment geführt hatte, mitsamt den Wänden, die ihn jetzt umgaben. Wann? Vor Jahren.Vor fünf Jahren in Chakar in den Bergen, als er in der Stille derNacht zu Takver gesagt hatte: »Ich werde nach Abbenay gehenund Mauern abbauen.« Oder eigentlich noch früher; lange davor, im Staub, in den Jahren von Hunger und Not, als er sichgeschworen hatte, nie wieder anders zu handeln als nach dereigenen freien Entscheidung. Dass er sich an diesen Schwur gehalten hatte, hatte ihn hierhergeführt, in diesen Moment ohneZeit, an diesen Ort ohne Welt, in dieses kleine Zimmer, diesesGefängnis.Der Arzt hatte seine verletzte Schulter untersucht. (DerBluterguss war Shevek ein Rätsel; er war zu angespannt undzu gehetzt gewesen, um mitzubekommen, was auf dem Landungsfeld vor sich ging, und so hatte er den Stein, der ihn traf,nicht gespürt.) Jetzt wandte der Doktor sich ihm mit einer Injektionsnadel zu.»Das will ich nicht«, sagte Shevek. Er sprach langsam Jotischund, wie er von den Gesprächen über Funk wusste, mit schlechter Betonung, aber grammatikalisch einigermaßen korrekt; dasVerstehen fiel ihm schwerer als das Sprechen.»Das ist eine Impfung gegen Masern«, sagte der Arzt, vonBerufs wegen taub.»Nein«, sagte Shevek.Der Arzt biss sich einen Moment auf die Unterlippe. Dannsagte er: »Wissen Sie, was Masern sind, Herr?«»Nein.«»Eine Krankheit. Ansteckend. Bei Erwachsenen oft schwer.Auf Anarres ist sie unbekannt; sie wurde durch prophylaktischeMaßnahmen ferngehalten, als der Planet besiedelt wurde. AufUrras ist sie weit verbreitet. Sie könnten daran sterben. Sie haben keine Abwehrkräfte. Sind Sie Rechtshänder, Herr?«15

Shevek schüttelte automatisch den Kopf. Mit der Geschicklichkeit eines Taschenspielers stieß der Arzt ihm die Nadel inden rechten Arm. Schweigend fügte sich Shevek dieser undauch den folgenden Injektionen. Er hatte kein Recht auf Misstrauen oder Widerspruch. Er hatte sich diesen Menschen ausgeliefert; er hatte sein Geburtsrecht auf Selbstbestimmung abgegeben. Es galt nicht mehr, es war zusammen mit seiner Weltvon ihm abgefallen, der Welt des Großen Versprechens, demnackten Fels.Der Arzt sagte wieder etwas, doch er hörte nicht zu.Stunden, vielleicht Tage lang lebte er in einem leeren Raum,einem öden, elenden Vakuum ohne Vergangenheit und Zukunft.Die Wände beengten ihn. Außerhalb von ihnen herrschte dieStille. Arme und Gesäß schmerzten von den Spritzen; er hatteFieber, das sich nie zum Delirium steigerte, aber ihn in einenSchwebezustand zwischen Denken und Träumen versetzte, einNiemandsland. Die Zeit verging nicht. Es gab keine Zeit. Er wardie Zeit: er allein. Er war der Fluss, der Pfeil, der Stein. Aberer bewegte sich nicht fort. Der geworfene Stein verharrte aufhalbem Weg. Es gab weder Tag noch Nacht. Dann und wannschaltete der Arzt das Licht aus oder an. In die Wand am Bettwar eine Uhr eingelassen; ihr Zeiger bewegte sich, ohne jedeBedeutung, von einer der zwanzig Ziffern auf der Scheibe zurnächsten.Er erwachte nach einem langen, tiefen Schlaf, und da er mitdem Gesicht zur Uhr lag, betrachtete er sie schläfrig. Der Zeigerstand ein Stück hinter der 15, sodass es, wenn das Ziffernblattvon Mitternacht aus gelesen wurde, wie die 24-Stunden-Uhrauf Anarres, später Nachmittag sein musste. Doch wie konntees im All zwischen zwei Welten Nachmittag sein? Nun, dasSchiff lief bestimmt nach einer eigenen Zeitrechnung. Dass erdiese Überlegungen anstellte, erfüllte ihn mit kolossalem Mut.Er setzte sich auf, ohne dass ihm schwindelig wurde. Erhob sich16

und prüfte seinen Gleichgewichtssinn: befriedigend, trotz desGefühls, dass seine Fußsohlen nicht ganz fest auf dem Bodenstanden. Wahrscheinlich war das Gravitationsfeld des Schiffes ziemlich schwach. Das Gefühl behagte ihm nicht; was erbrauchte, waren Stabilität, Solidität, verlässliche Tatsachen. Aufder Suche danach begann er methodisch, das kleine Zimmerzu inspizieren.Die leeren Wände bargen lauter Überraschungen, man musstenur die Vertäfelung berühren, damit sie sich zeigten: Waschbecken, Klosett, Spiegel, Schreibtisch, Stuhl, Schrank, Regale. Mitdem Waschbecken waren einige vollkommen rätselhafte elektrische Geräte verbunden, und das Wasserventil schloss sichnicht automatisch, wenn man den Hahn losließ, sondern liefweiter, bis man ihn zudrehte – ein Zeichen, wie Shevek meinte,entweder von großem Vertrauen in die menschliche Natur odervon großen Mengen heißen Wassers. Da er Letzteres vermutete, wusch er sich von Kopf bis Fuß und trocknete sich, weiler kein Handtuch fand, mit einem der rätselhaften Geräte ab,einem, das einen angenehm kitzeligen Strom warmer Luft ausstieß. Als er seine eigenen Sachen nicht fand, zog er wieder dasüber, was er beim Aufwachen angehabt hatte: eine weite Hosemit Taillenband und einen formlosen Kittel, beide leuchtendgelb mit kleinen blauen Punkten. Er betrachtete sich im Spiegel.Die Wirkung war bedauerlich. Kleidete man sich auf Urras so?Er suchte vergeblich nach einem Kamm, behalf sich, indem ersein Haar hinten zu einem Zopf flocht, und schickte sich sohergerichtet an, das Zimmer zu verlassen.Es ging nicht. Die Tür war abgeschlossen.Sheveks anfängliche Ungläubigkeit verwandelte sich in Zorn,einen Zorn – einen blindwütigen Willen zur Gewalt – , wie erihn noch nie in seinem Leben verspürt hatte. Er riss an demstarren Türgriff, schlug mit den Händen auf das glatte Metallder Tür ein, wandte sich ab und drückte die Ruftaste, die der17

Arzt ihm gezeigt hatte, damit er sie im Notfall betätige. Nichtspassierte. Auf der Sprechanlage befanden sich eine Reihe weiterer kleiner, verschiedenfarbiger Knöpfe mit Ziffern. Er drücktemit der Hand auf alle zugleich. Der Lautsprecher in der Wandbegann zu stammeln: »Wer zum Teufel ja kommt sofort Endeklar was von zweiundzwanzig «Shevek übertönte sie alle: »Tür auf!«Die Tür glitt auf, der Arzt schaute herein. Beim Anblickseines kahlen, besorgten, gelblichen Gesichts verging SheveksZorn und zog sich in eine innere Finsternis zurück. Er sagte:»Die Tür war abgeschlossen.«»Verzeihen Sie, Dr. Shevek, eine Vorsichtsmaßnahme – Ansteckung – die anderen müssen ferngehalten werden «»Ausschließen, einschließen, ein und dasselbe«, sagte Shevek und blickte mit hellen, abweisenden Augen auf den Arzthinunter.»Sicherheit «»Sicherheit? Muss man mich in einer Kiste halten?«»Der Offizierssalon«, schlug der Arzt hastig, besänftigend,vor. »Haben Sie Hunger, Herr? Vielleicht mögen Sie sich anziehen, und wir gehen in den Salon.«Shevek betrachtete die Kleidung des Arztes: enge blaue Hosein Stiefel gesteckt, die ebenfalls so glatt und fein aussahen wieStoff; ein violetter Kittel, der vorne offen und mit silbernenPosamentverschlüssen geknöpft war, und darunter, nur amHals und an den Handgelenken zu sehen, ein blendend weißesStrickhemd.»Ich bin nicht angezogen?«, fragte Shevek schließlich.»Oh, der Pyjama reicht absolut. Keine Formalitäten aufeinem Frachtschiff !«»Pyjama?«»Was Sie da anhaben. Schlafkleidung.«»Kleidung, die man zum Schlafen trägt?«18

»Ja.«Shevek blinzelte. Er sagte nichts. Er fragte: »Wo sind die Sachen, die ich anhatte?«»Ihre Kleidung? Ich habe sie reinigen – desinfizieren – lassen. Ich hoffe, das ist Ihnen recht, Herr « Er schaute in einWandfach, das Shevek nicht entdeckt hatte, und holte ein inblassgrünes Papier eingeschlagenes Paket hervor. Er wickelteSheveks alten Anzug aus, der sehr sauber und um einiges kleiner wirkte als zuvor, zerknüllte das Papier, aktivierte ein weiteres Fach, warf das Papier in das aufgehende Behältnis undlächelte unsicher. »Da, bitte sehr, Dr. Shevek.«»Was wird mit dem Papier?«»Dem Papier?«»Dem grünen Papier.«»Oh, das habe ich in den Müll geworfen.«»Den Müll?«»Abfall. Es wird verbrannt.«»Sie verbrennen Papier?«»Vielleicht wird es auch bloß ins All hinausgeworfen, ichweiß es nicht. Ich bin kein Weltraumarzt, Dr. Shevek. Man hatmich aufgrund meiner Erfahrung mit anderen Besuchern vonfernen Welten, den Botschaftern von Terra und Hain, mit derEhre betraut, Sie medizinisch zu betreuen. Ich bin der Leiterder Dekontaminierungs- und Habituierungsverfahren fürsämtliche Besucher von fremden Welten, die in A-Jo landen.Wobei Sie natürlich strenggenommen nicht von einer fremdenWelt kommen.« Er sah Shevek schüchtern an, der nicht allemfolgen konnte, was er sagte, aber doch den besorgten, zaghaften, wohlmeinenden Geist hinter den Worten spürte.»Nein«, stimmte Shevek zu. »Ich könnte dieselbe Ahnin haben wie Sie, vor zweihundert Jahren auf Urras.« Er war dabei,seine alten Sachen anzuziehen, und als er sich das Hemd überden Kopf zog, sah er, wie der Arzt die blaugelbe »Schlafklei19

dung« in den »Müll«-Behälter stopfte. Shevek hielt inne, denKragen noch über der Nase. Er zog das Hemd ganz herunterund öffnete den Behälter. Er war leer.»Die Sachen werden verbrannt?«»Ach, das ist ein billiger Pyjama, Standardausrüstung – einmal tragen und wegwerfen, das ist billiger als waschen.«»Das ist billiger«, wiederholte Shevek nachdenklich. Er sagtedie Worte so, wie ein Paläontologe ein Fossil anschaut – dasFossil, durch das sich eine ganze Bodenschicht datieren lässt.»Ich fürchte, Ihr Gepäck ist bei dem Sturm aufs Schiff verlorengegangen. Hoffentlich war nichts Wichtiges dabei.«»Ich hatte nichts mit«, sagte Shevek. Obwohl sein Anzug fastweiß gebleicht und ein wenig eingelaufen war, passte er noch,und der vertraute, grobe Holumfaserstoff lag angenehm aufseiner Haut. Er fühlte sich wieder wie er selbst. Er setzte sichaufs Bett und blickte den Arzt an. »Sehen Sie«, sagte er, »ichweiß, dass Sie sich Sachen nicht nehmen, so wie wir es tun.In Ihrer Welt, auf Urras, muss man Dinge kaufen. Ich kommein Ihre Welt, ich habe kein Geld, ich kann nichts kaufen, deswegen müsste ich etwas dabeihaben. Aber wie viel kann ichmitbringen? Kleidung, ja, ich könnte zwei Anzüge mitbringen.Aber Nahrung? Wie kann ich genug Nahrung mitbringen? Ichkann sie nicht mitbringen, ich kann sie nicht kaufen. Wenn icham Leben bleiben soll, müssen Sie mir etwas geben. Ich binAnarrase, ich zwinge die Urrasier, sich wie Anarrasen zu verhalten: zu geben statt zu verkaufen. Wenn Sie mögen. Natürlichist es nicht nötig, mich am Leben zu erhalten! Ich bin der Bettelmann, verstehen Sie.«»O nein, keineswegs, Herr, nein, nein. Sie sind ein hochverehrter Gast. Bitte beurteilen Sie uns nicht nach der Besatzungdieses Raumschiffs, das sind ganz ungebildete, ignorante Männer – Sie ahnen nicht, was für einen Empfang man Ihnen aufUrras bereiten wird. Schließlich sind Sie ein weltberühmter, ein20

in der ganzen Galaxis berühmter Wissenschaftler! Und unsererster Gast vom Anarres! Ich versichere Ihnen, es wird allesvollkommen anders werden, wenn wir auf dem Feld in Peierlanden.«»Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel«, sagte Shevek.Normalerweise dauerte es viereinhalb Tage, die Strecke zwischen Urras und seinem Mond zurückzulegen, doch diesmalwurde die Rückreise um fünf Tage Habituierungszeit für denPassagier verlängert. Shevek und Dr. Kimoe verbrachten siemit Impfungen und Gesprächen. Der Kapitän der Respekt verbrachte sie damit, das Schiff auf der Umlaufbahn um Urras zuhalten und zu fluchen. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, mitShevek zu sprechen, war er unsicher und respektlos. Der Arztmit seiner stetigen Bereitschaft, alles zu erklären, hatte eineAnalyse parat: »Er ist es gewohnt, auf alle Außerweltler herabzusehen, als nicht ganz vollwertige Menschen.«»Die Erschaffung von Pseudogattungen, hat Odo das genannt. Ja. Ich hätte erwartet, dass man auf Urras vielleicht nichtmehr so denken würde, wo Sie dort so viele Sprachen und Nationen haben und sogar Besucher aus anderen Sonnensystemen.«»Nur ganz wenige, weil interstellare Reisen so kostspieligund langwierig sind. Vielleicht wird das nicht immer so sein«,sagte Dr. Kimoe, offenbar mit der Absicht, Shevek zu schmeicheln oder ihn aus der Reserve zu locken, was Shevek jedochignorierte.»Der Zweite Offizier«, sagte er, »scheint vor mir Angst zuhaben.«»Ach, bei ihm ist das religiöse Borniertheit. Er ist ein strenggläubiger Epiphanier. Betet jeden Abend die Primen. Ein ganzVernagelter.«21

»Und deswegen bin ich für ihn – was?«»Ein gefährlicher Atheist.«»Ein Atheist! Weshalb?«»Nun ja, weil Sie Odonier sind, vom Anarres. Auf Anarresgibt es keine Religion.«»Keine Religion? Sind wir aus Stein auf Anarres?«»Ich meine damit, keine offizielle Religion – mit Kirchen,Glaubensrichtungen « Kimoe wurde schnell nervös. Er besaßdie forsche Selbstsicherheit eines Arztes, doch Shevek warf ihnständig aus der Bahn. Nach zwei, drei Fragen von ihm gerietenall seine Erklärungen ins Schwimmen. Beiden Männern galteneinige Verhältnisse als selbstverständlich, die der jeweils anderenicht einmal wahrzunehmen vermochte. Dieses seltsame Problem von oben und unten etwa. Shevek wusste, dass Überlegenheit, relative Höhe, für die Urrasier von großer Bedeutungwar; in ihren Schriften benutzten sie häufig das Wort »höher«gleichbedeutend mit »besser«, wo ein Anarrese »zentraler«wählen würde. Aber was hatte »höher« mit der Beziehung zuFremden zu tun? Das war ein Rätsel unter hunderten.»Aha«, sagte Shevek jetzt, da sich mal wieder ein Rätselklärte. »Für Sie gibt es keine Religion außerhalb der Kirchen,ebenso wie es für Sie keine Moral jenseits der Gesetze gibt. Wissen Sie, das hatte ich in all den urrasischen Büchern, die ichgelesen habe, nie verstanden.«»Nun, heutzutage würde jeder aufgeklärte Mensch eingestehen «»Es sind die Wörter, die es erschweren«, sagte Shevek, seiner Erkenntnis weiter nachgehend. »Auf Pravic ist das WortReligion selten. Nein, wie sagen Sie – rar. Es wird nicht häufigverwendet. Wobei es natürlich für eine der Kategorien steht:den Vierten Modus. Nur wenige Menschen lernen es, alle Modizu praktizieren. Aber die Modi sind aus den natürlichen Geistesanlagen hergeleitet. Sie können doch nicht im Ernst meinen,22

dass wir nicht über eine Anlage zur Religion verfügten? Dasswir physikalisch denken könnten, aber von der tiefsten Verbindung, die der Mensch mit dem Kosmos hat, abgeschnittenwären?«»O nein, keineswegs «»Das würde uns in der Tat zu einer Pseudogattung machen!«»Gebildete Männer würden das gewiss verstehen. Diese Offiziere sind ungebildet.«»Aber heißt das, nur Bornierte dürfen in den Kosmos hinaus?«So verliefen all ihre Gespräche, erschöpfend für den Arztund unbefriedigend für Shevek, aber dennoch äußerst interessant für beide. Für Shevek waren sie die einzige Möglichkeit,die neue Welt, die ihn erwartete, zu erkunden. Das Schiff undKimoes Denkweise waren sein Mikrokosmos. Es gab keine Bücher an Bord der Respekt, die Offiziere mieden Shevek, und dieBesatzung wurde strikt von ihm ferngehalten. Und obwohl derArzt intelligent und ganz gewiss guten Willens war, herrschtein seinem Kopf ein Mischmasch geistiger Konstrukte, der nochverwirrender war als die vielen Geräte, Instrumente und Annehmlichkeiten, mit denen das Schiff ausgestattet war. Letzterefand Shevek unterhaltsam; alles war so großzügig, stilvoll undraffiniert; doch die Möblierung von Kimoes Intellekt behagteihm weniger. Kimoes Gedankengänge schienen sich niemalsgeradeaus bewegen zu können; sie mussten dies umgehen undjenes meiden und endeten schließlich abrupt vor einer Wand.Sein gesamtes Denken war von Mauern umstellt, und er schiensie überhaupt nicht zu bemerken, obwohl er sich ständig hinterihnen versteckte. Dass sie durchbrochen wurden, erlebte Shevek während ihrer tagelangen Gespräche zwischen den

Manchmal war am Lagerhaus ein Trupp zu sehen, der Kis-ten aus Kettenfahrzeugen entlud. Manchmal stand sogar ein Frachtschiff auf der Rampe. Frachtschiff e landeten nur acht-mal im Jahr, unangekündigt, sodass niemand außer den im Hafen arbeitenden Syndiks Bescheid wusste, und wenn die Zusch