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MARKE14HOHE LUFT

AUTOMOBILMOBILERAU T I S M U STut uns leid, lieber Goethe: WasDeutschland im Innersten zusammenhält,sind keine Gedichte. Es ist das Automobil.Die Freude am Fahren, an der Freiheit,die Liebe zum (Vorzeige-)Objekt und derunbedingte (wirtschaftliche) Wille,daran festzuhalten. Eine philosophischeSicht auf eine Branche in der Krise –und eine Nation, die (noch) nichtloskommt von einer alten Perspektive.Text: Thomas Vašek; Illustration: Martin NicolaussonMitarbeit: Maja Beckers, Tobias Hürter, Greta Lührs, Rebekka Reinhard15HOHE LUFT

AUTOMOBILF400 Milliarden Euro. Ein Ende des Verbrennungsmotors, soeine aktuelle Ifo-Studie, würde 600 000 Arbeitsplätze bedrohen – das sind rund zehn Prozent der Beschäftigten in derdeutschen Industrie.Mehr als jeder zweite Deutsche besitzt ein eigenesFahrzeug. 70 Prozent von ihnen fahren regelmäßig, über einDrittel sogar täglich. Keine andere Form der Fortbewegungist derart beliebt. Im Jahr 2014 etwa haben die Deutschenmehr als 929 Milliarden Kilometer per Auto zurückgelegt, sohat es der Automobilexperte Ferdinand Dudenhöffer ausgerechnet – das entspricht dem 1,2-Millionen-Fachen der Entfernung zum Mond und zurück. »Ohne Auto funktioniertDeutschland nicht«, schreibt Dudenhöffer.Die deutsche Automobilkrise hat nicht nur eine wirtschaftliche, politische und ökologische Dimension. Sie istauch die Krise eines nationalen Mythos, der das deutscheSelbstverständnis bis heute mitkonstituiert. Wir müssendaher versuchen, ihre tiefere Bedeutung auch philosophischzu begreifen. Es ist bemerkenswert und merkwürdigzugleich, dass sich kaum ein großer deutscher Denker des20. Jahrhunderts näher mit dem deutschen Auto beschäftigthat. Dabei gibt es keinen Gegenstand, der die industrielleModerne so sehr symbolisiert wie das Automobil.Stellen wir die Grundfrage: Was ist ein Auto überhaupt?Auf den ersten Blick scheint das sonnenklar zu sein. Ein»Auto«, das ist laut Duden »ein von einem Motor angetriebenes Fahrzeug, das zur Beförderung von Personen oderGütern dient«. Aber das sagt uns noch nicht viel darüber,was eigentlich passiert, wenn wir fahren.Wir steigen in ein Blechgehäuse, drehen einen Schlüssel um oder drücken einen Knopf, irgendetwas fängt zubrummen an, wir treten auf ein Pedal – und fahren los. Eineandere Beschreibung des gleichen Vorgangs: In einem Metallzylinder entzündet sich ein Gemisch aus Kraftstoff undLuft, durch die Expansion der Verbrennungsgase entstehtreie Bürger fordern freie Fahrt«– mit diesem Slogan startete derAllgemeine Deutsche AutomobilClub (ADAC) im Februar 1974,mitten in der Ölkrise, seine Kampagne gegen einen TempolimitGroßversuch auf den Bundesautobahnen. Die Parole gehörtnoch immer zur automobilen»Leitkultur« des Landes, eingenerelles Tempolimit gilt als politisch nicht durchsetzbar.Die Frage des Automobils ist bis heute eng verbunden mitder Frage nach dem »Deutschen«, nach unserer Identität,nach unserer Perspektive auf die Welt.Aber nun steckt das Auto – und damit das deutscheSelbstverständnis – in der Krise. In der Debatte um die deutsche Autoindustrie verdichtet sich heute, wie im Zylindereines Verbrennungsmotors, ein Gemisch aus zentralen Fragen unserer Zeit: Globalisierung, Klimawandel, Digitalisierung. Es geht nicht nur um Abgaswerte, betrügerischeManipulationen und Kartellverdacht, sondern auch um einentiefgreifenden Wandel, der die Autonation Deutschland inihrem Innersten trifft.Die Dieselkrise ist die Krise des Verbrennungsmotors.Sie ist aber auch die Krise einer nahezu totalen Autokultur,die dieses Land bis in den letzten Winkel durchdringt.»Deutschland hat das Auto erfunden, perfektioniert und sichemotional und ökonomisch davon abhängig gemacht«,schreibt der Mobilitätsforscher Stephan Rammler in seinerStreitschrift »Volk ohne Wagen«.Welche Bedeutung das Automobil für die Deutschenhat, zeigen schon die nackten Zahlen: Die Automobilindustrie hat heute 800 000 direkt Beschäftigte; rund 1,5 MillionenArbeitsplätze hängen indirekt vom Auto ab. Im Vorjahrerwirtschaftete die Autoindustrie einen Umsatz von mehr als16HOHE LUFTIllustration: Martin Nicolausson / wildfoxrunning.comEine Autobahn, irgendwo in Deutschland. Auf der linken Spur Fahrzeuge, die,einander permanent überholend und wegdrängend, in rasender Geschwindigkeit und mitdrohend blinkender Lichthupe wie Geschosse über den Asphalt donnern. Darin: braveBürger, die sich für die Dauer der Fahrt in Kampfpiloten verwandelt haben. Warum? Weil dasAutomobil für uns Deutsche Selbstbewegung, Selbstermächtigung, Freiheit bedeutet.In fast allen Ländern gibt es ein generelles Tempolimit auf den Straßen. Nur in Deutschlandgestattet man dem Fahrer, was er sonst nirgends darf – so schnell zu fahren, wie er will.

AUTOMOBILTradition hat, von der Romantik bis zur Kulturkritik der»Frankfurter Schule«.Welche Bedeutung in Deutschland die »Fahrfreude«hat, das Fahren um seiner selbst willen, lässt sich nicht nur aneinschlägigen Werbespots erkennen. Man kann es an dentechnischen Daten selbst ablesen. Das deutsche Automobilwird immer leistungsstärker. Neuwagen haben heute imSchnitt 150 PS, gegenüber 95 PS im Jahr 1995. Der Kleinstwagen Opel Adam bietet heute in der stärksten Variante die gleiche Beschleunigung wie ein Porsche 911 aus dem Jahr 1963.Ginge es bloß darum, mit dem Auto einkaufen zu fahren,bräuchte man weder hohe Leistung noch ein Sportfahrwerk.Fahren um des Fahrens willen – das ist der Blick durchdie Frontscheibe, die Perspektive des automobilen Subjekts,sein »Autismus«. Das ist bis heute auch die Perspektive derdeutschen Automobilindustrie.Wenn der deutsche Ingenieur Carl Benz (1844–1929),der im Jahr 1886 den ersten brauchbaren »Motorwagen«baute, in einen Mercedes-Benz aus dem Jahr 2017 steigenkönnte, käme er vermutlich gut zurecht. Lenkrad, Gaspedal,Schalthebel: All das gab es bereits zu Benz’ Zeiten. Und derMotor funktioniert im Prinzip auch noch so, eben mit Benzin.Darin zeigt sich das große Paradox des Autos: Es ist einerseits ein unvergleichlich mächtiger Innovationstreiber – dieDAS AUTO IST NICHT NUR EIN GERÄT.Autos von heute sind wahre Wunderwerke der IngenieursES IST EINE LEBENSFORMkunst. Andererseits ist es ein technischer Archaismus.Aber ein Auto ist noch viel mehr als nur ein FortbeweVom Komponisten Richard Wagner stammt das Diktum,gungsmittel. Es ist Lustobjekt, Designikone, Statussymbol,»deutsch« sei es, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun.materialisierte Freiheit – und oft alles zugleich. Steuern undWenn diese Definition zutrifft, dann ist Autofahren die deutschalten bedeuten nicht einfach, ein Fahrzeug zu bedienen.sche Tätigkeit schlechthin. Es geht dem deutschen AutoEs gehört zu unserem Leben fast wie atmen, gehen undfahrer nicht primär um den Nutzen, von einem Ort zumSex haben. Das Auto ist zu einer nahtlosen Extension desanderen zu gelangen. Es geht ums Fahren selbst. DahinterFahrers geworden.steht die Abwertung des Instrumentellen, des nur NützAutofahren bedeutet, 300 PS stark zu sein. Es bedeulichen, die auch in der deutschen Philosophie eine langetet für viele Flexibilität und Unabhängigkeit. Es bedeutet vollklimatisierte,S A C K G ASSE DIESELschallgedämmte, aufprallgeschützte GeDieselmotoren stoßen deutlich mehr Stickoxide aus als Benzinborgenheit. Das ist die Perspektive desmotoren, was zu Gesundheitsbelastungen führen kann wieFahrers, des automobilen Subjekts.etwa Husten, Kopfschmerzen und Atembeschwerden. In mehrDas Automobil ist jedoch nicht nur einals 50 deutschen Städten sind die Stickoxidbelastungen seittechnisches Gerät. Es bestimmt unsereJahren überhöht. Der Diesel ist ein europäisches und vor allemGewohnheiten, unseren Alltag, unseredeutsches Problem. In Deutschland liegt der Marktanteil beiWelt – wie wir einkaufen, die Kinderknapp 50 Prozent, während er etwa in den USA weniger als dreizur Schule bringen oder den UrlaubProzent beträgt, in China nur 0,3 Prozent. Laut AutoexperteDudenhöffer stecken die europäischen Hersteller mit dem Diesel verbringen.Das Auto ist heute Teil desin einer »Sackgasse«, weil sie die außereuropäischen MärkteMenschseins – und des Deutschseins.brauchen, um die hohen Entwicklungskosten einzuspielen.ein Druck, der einen Kolben in Bewegung setzt; die chemische Energie wird in Bewegungsenergie umgewandelt – dieRäder setzen sich in Bewegung.Auto-Mobilität, das ist Selbstbewegung (vom lateinischen autos für selbst, mobilis für beweglich). Per Tritt aufsGaspedal verwandelt sich der Wille des Fahrers in schiereKraft. Peter Sloterdijk deutete das Autofahren einmal als»Weltreligion« einer »kinetischen Moderne«, in der es bloßdarum gehe, sich immer schneller zu bewegen, ohne je anein Ziel zu gelangen; das moderne Subjekt charakterisierteer als Kentauren – halb Mensch, halb Automobil.Das Auto ist das Kultobjekt der Deutschen, ihr Fetisch,ihre Religion. Für keinen anderen Gegenstand geben wirderart viel Geld aus, keinem anderen schenken wir so vielAufmerksamkeit, kaum einen anderen beten wir derart an.Zwar behaupten in Umfragen 70 Prozent der Deutschen, dasAuto sei für sie nur Gebrauchsgegenstand. Doch gleichzeitigsagen ebenso viele, dass sie ihr Auto »lieben«; jeder Fünftespricht sogar mit seinem Fahrzeug. Gewiss, Autonarrengibt es auch anderswo. Doch vermutlich ist das Automobil inkeinem Land der Welt, nicht einmal in den USA, derart verwoben mit der nationalen Identität.17HOHE LUFT

AUTOMOBILE I N E S PA Z I E RFA HRT DU R CH D IE GESCHICHTEIn den Anfängen war das Autofahren ein sportliches Abenteuerfür die Oberschicht. Die ersten »Autler«, wie man sie nannte,brauchten nicht nur Geld, sondern auch Muskeln und Mut; ihreGefährte glichen »ungezähmten Tieren«, wie der AutohistorikerWolfgang Sachs schreibt. Das Freizeitvergnügen der Reichenstieß allerdings auf Widerstand. Auf den Straßen bewegten sichvor allem Fußgänger und Pferdefuhrwerke. Eine »AutomobilInterpellation« im preußischen Landtag berichtete 1908 von 2920Unfällen innerhalb von sechs Monaten, ein Abgeordneter sprachvon der »beispiellosen Rohheit« der rasenden Automobilisten. Ersagte: »Diese Herren schätzen den Wert ihrer Zeit denn zu hochein.« Schon die ersten Autokritiker sahen das Konfliktpotenzial desAutomobils. So publizierte 1912 ein gewisser Michael Freiherrvon Pidoll in Wien einen »Protest- und Weckruf«, in dem er dasRecht der Allgemeinheit auf die Straßennutzung zurückforderte:»Woher nimmt der Automobilist das Recht, die Straße, wie ersich rühmt, zu ›beherrschen‹, die doch keineswegs ihm, sondernder gesamten Bevölkerung gehört?«Eine Technologie wie das Auto ist nichteinfach neutral, meint der amerikanische Technikphilosoph Andrew Feenberg. Nach seiner Theorie enthaltentechnische Systeme einen »Code«, derbestimmte Regeln und Routinen festlegt, in denen sich Werte und Interessen der jeweiligen industriellen Kulturausdrücken. Das Automobil ist politisch, es hat zu tun mit Macht.In den technischen Code desdeutschen Automobils ist die Fahrerperspektive eingeschrieben. Es ist»um den Fahrer herum entwickelt«,wie Autoexperte Dudenhöffer sagt. Esgeht immer nur um seinen »Fahrspaß«,seine Emotionen, seine »Gänsehaut« –um seine Perspektive auf die Welt. Sowirbt etwa BMW mit der »Freude amFahren«. Zur Markenphilosophie heißtes sogar, man sei »nur einem verpflichtet: dem Fahrer«.Wie, nur dem Fahrer? Niemandem sonst? Nicht den anderen Verkehrsteilnehmern? Nicht einmal dem Beifahrer oderden Kindern im Fond?Es ist eine »Lebensform« nach der Definition von LudwigWittgenstein (1889–1951), ähnlich wie das Sprechen einerSprache.An der Lebensform des Automobils richten wir unseren Alltag aus, sie strukturiert unsere Welt, die Art undWeise, wie wir reden. Ständig benutzen wir Metaphern undBilder, die mit dem Auto zu tun haben: Die Verhandlungenstecken in einer Sackgasse. Unser Verhältnis ist eine Einbahnstraße. Schalt mal einen Gang runter.Fast überall fahren Menschen mit dem Auto. Dochsie fahren nicht überall gleich. Ihre automobilen Lebensformen unterscheiden sich. Was eine solche Lebensform ausmacht, das ist nicht allein die Technik. Dazu gehören auchbestimmte Regeln und Routinen, kulturelle Praktiken undGewohnheiten. Um das zu verstehen, muss man nur einmalvon der deutschen Autobahn auf eine österreichische oderitalienische Autobahn wechseln oder umgekehrt.Normalerweise denken wir, dass es vom Fahrer selbstabhängt, wie er fährt. Das ist die subjektzentrierte Sicht.Doch es ist eben nicht egal, in welchem Auto man sitzt. BeimAutofahren läuft eine Art Handlungsprogramm ab, bei demwir nicht genau sagen können, wer da eigentlich agiert. Subjekt und Objekt, Fahrer und Fahrzeug bilden eine Einheit,eine Art Hybridwesen, ein »Quasi-Objekt«, wie es der französische Philosoph Bruno Latour nennt. Aber wenn das Autofahren ein solches Handlungsprogramm ist, dann fragt sich,wer oder was dieses Programm geschrieben hat.Die »Fahrerperspektive« desdeutschen Automobils drücktsich zunächst aus in derTechnik, von der PS-Leistungüber die Fahrwerksabstimmung bis zum Head-up-Display. Längst geht es dabeinicht bloß um Hardware wieAuspuff und Zylinderkopf.Per Software lässt sich dertechnische Code eines Autos heute bis ins feinste Detailjustieren, von der Motorsteuerung über Fahrerassistenzsysteme bis zum Klang des Motorengeräuschs.Wenn Andrew Feenbergs These stimmt, dann dienenalle diese Eingriffe letztlich dazu, unsere automobile Lebensform und damit die Herrschaft der Automobilindustrie zuverfestigen. Das schlagendste Beispiel, wie sich im »technischen Code« bestimmte Werte und Interessen niederschlagen können, lieferte schließlich der Skandal um die Manipulation der Motorsoftware bei Volkswagen, um am Prüfstandniedrigere Abgaswerte vorzutäuschen. Das Problem dahinter ist nicht nur die offenbar betrügerische Absicht. Es ist die18HOHE LUFT

AUTOMOBILseinen eigenen Sinn. Die Freiheit schlägt um in Unfreiheit,Flexibilität in Zwang, Geborgenheit in Bedrohung. DieSelbstbewegung mündet in den Megastau, die Freude amFahren in Stress. Wenn es den Deutschen tatsächlich darumgeht, eine Sache »um ihrer selbst willen« zu tun, wie RichardWagner meinte, dann ist die Krise des deutschen Automobilsauch eine Krise der nationalen Identität.selbst verschuldete Abhängigkeit vom Verbrennungsmotor,namentlich vom Diesel, von der die Autoindustrie – und mitihr die deutsche Politik – nicht mehr loskommt.Der Diesel galt jahrzehntelang als der ganze Stolz derdeutschen Automobilindustrie, obwohl man schon lange wissen konnte, dass die Technologie trotz hoher Investitionenkeine Zukunft hat. Im sparsamen und zugleich kraftvollenDieselantrieb selbst steckt schon die »Fahrerperspektive«,die den deutschen Autoingenieuren so heilig ist.Zum Automobil gehört nicht nur die Technik, nicht nurdas Fahrzeug selbst, sondern das ganze System, in dem essich bewegt. Ein 500-PS-Sportwagen in einem Land ohneTempolimit ist ontologisch nicht das Gleiche wie ein identisches Fahrzeug in einem Land, in dem überall Tempo 80 gilt.Dabei geht es nicht unbedingt darum, den Wagen wirklich»auszufahren«. Entscheidend ist die Potenzialität, dass manes könnte, wenn man es wollte.Die Perspektive der deutschen Autoindustrie – das istimmer noch die alte Fahrerperspektive auf die Welt, der deutsche »Autismus«, der deutsche »Tunnelblick«. Das Ergebnisist eine Welt, die auf diese Fahrerperspektive zugeschnitten ist– ein autopoietisches, sich selbst schaffendes Netzwerk ausgegenseitigen Abhängigkeiten vom Straßenbau über Tankstellen bis zur Versicherungswirtschaft. Es ist fast unmöglichgeworden, uns vom Automobil zu trennen, weil sich die automobile Lebensform immer wieder selbst reproduziert.Die Herrschaft des deutschen Automobilsystems istheute praktisch total, sie reicht von der direkten politischenVerflechtung, siehe Volkswagen, über die Lobbyarbeit derKonzerne bis zum ADAC, dem größten europäischen Verkehrsclub. Die Macht der Autoindustrie gründet auf demsich selbst reproduzierenden System Automobil – und auf derunhinterfragten Behauptung, dass der Wohlstand des Landes von ihr abhängt. Das erklärt letztlich auch die Vorsicht,mit der die Politik bislang auf den Dieselskandal reagiert hat.Der Münchner Philosoph (und VW-Kleinaktionär)Julian Nida-Rümelin vermutete in einem Interview mit dem»Handelsblatt« kürzlich eine »ethische Verlotterung« bei denAutomobilkonzernen. In den Unternehmen habe sich möglicherweise die Einstellung verbreitet, man müsse sich umNormen nicht mehr kümmern, weil man für die deutscheWirtschaft »eine derart zentrale Rolle« spiele. Nida-Rümelinsmoralische Kritik mag zutreffen. Doch die moralische Kritiktrifft nicht den Kern der Sache.Das eigentliche Problem der deutschen Autoindustrieliegt in der Krise der automobilen Lebensform. Das Automobil unterminiert immer mehr seine eigenen Versprechen,DAS AUTO WAR DAS VEHIKELDER NS-PROPAGANDAIm Hinblick auf Wagners Diktum bemerkte Theodor W.Adorno (1903–1969) einmal, dem »Um seiner selbst willen«sei im »unerbittlich integren Mangel an Rücksicht auf denanderen, auch Inhumanität nicht fremd«. Wenn man etwasals »spezifisch deutsch« vermuten dürfe, so Adorno, dann seidies das »Ineinander des Großartigen, in keiner konventionellen Grenze sich bescheidenden, mit dem Monströsen«.Vor Augen stand Adorno dabei natürlich der Weg Deutschlands in den Nationalsozialismus. Aber beschreibt seineBemerkung nicht auch den Kern der deutschen Autoleidenschaft?Es ist von großer Bedeutung, dass das Automobil ineinem Land erfunden wurde, in dem man es nicht zwingendbrauchte. In Deutschland musste man keine gigantischenDistanzen in der Wildnis überbrücken wie in den USA. AlsCarl Benz 1886 den Benz-Patent-Motorwagen Nr. 1 erfand,gab es in Deutschland eine gut ausgebaute Eisenbahn – undbereits das Fahrrad für den Nahverkehr. Das Autofahrenwar zunächst das exklusive Sportvergnügen wohlhabenderEnthusiasten, für die das Auto den Komfort der Kutsche mitder Schnelligkeit der Eisenbahn verband.Schon in den Anfängen stand das Automobil für Freiheit und Unabhängigkeit, es war ein Symbol für Modernität.Doch bis in die 20er- und 30er-Jahre blieb es ein Luxusspielzeug, unerschwinglich für die breiteren Massen, die unterder Inflation der Nachkriegszeit litten. Noch 1932 besaßennur ein Prozent der Deutschen ein eigenes Auto. Neidischschauten viele in die USA, wo das Ford Model T bereits millionenfach vom Fließband lief.Auf der »Internationalen Automobil-Ausstellung« 1933stellte Hitler der Autoindustrie weitreichende Subventionenin Aussicht, von steuerlichen Entlastungen über die Förderung des Rennsports bis zum Bau von Autobahnen. DieVertreter der Industrie waren beeindruckt von Hitlers offensichtlicher Sachkompetenz – der »Führer« war ein Autonarr.Das Automobil gehörte zur Selbstinszenierung der Nazis19HOHE LUFT

AUTOMOBILLE B E NS F ORM A UTOMO BI LDas Automobil ist eine »Lebensform«, die wir nur aus demalltäglichen Gebrauch verstehen können. Das zeigt sich am besten,wenn verschiedene solcher Lebensformen miteinander kollidieren. Ein Autofahrer will aus dem Kreisverkehr abfahren. Da derVerkehr stockt, bleibt er direkt auf dem Fußgängerübergangstehen. Ein Rennradfahrer kommt auf dem Radweg angerast undmuss anhalten, da sein Weg vom Auto versperrt ist. Entnervtsteigt er ab, schiebt sein Rad hinten um das Auto herum. Im Vorbeigehen schlägt er mit der flachen Hand auf das Heck undruft dem Fahrer zu: »Idiot!« Der Autofahrer steigt abrupt an Ortund Stelle aus und beginnt, dem Radfahrer unter wüstenBeschimpfungen hinterherzurennen. Der Radfahrer, offensichtlich überrascht, springt schnell auf und verschwindet in dernächsten Ausfahrt. Autofahrer, Radfahrer, Fußgänger – die verschiedenen Fortbewegungsarten scheinen, jedenfalls in vielenSituationen, unvereinbar zu sein. Obwohl sie die gleiche Sprachesprechen, verstehen sie einander nicht.Wolfsburger Volkswagen-Fabrik rollten statt Privatfahrzeugen militärischeKübelwagen vom Band.Nach dem Krieg konnte die deutsche Autoindustrie an den Voraussetzungen anknüpfen, die Hitlers Motorisierungspolitik geschaffen hatte. DieInfrastruktur und das technische Wissen waren vorhanden. Vor allem warda aber die Sehnsucht der Deutschennach etwas Wohlstand und Glück, derTraum vom »normalen Leben« nachden Jahren der NS-Diktatur. Die neueFreiheit materialisierte sich im Automobil. »Wir haben es geschafft: Dasneue Auto steht vor der Tür«, hieß esauf einem Werbebild für den Ford Taunus. Zu sehen war ein Familienvater,wie er einen Koffer in den Gepäckraumlegt, daneben Frau und Sohn, während die Nachbarn neidisch aus dem Fenster blicken.In den 50er-Jahren entwickelte sich die deutsche Automobilindustrie zur gigantischen Erfolgsgeschichte, nichtzuletzt dank der Hilfen des Marshallplans und der Lohnzurückhaltung der deutschen Gewerkschaften. Allein vom VWKäfer wurden weltweit 21 Millionen Fahrzeuge verkauft –mehr als vom legendären Ford Model T; schon 1955 setzteman mehr Autos im Ausland ab als in Deutschland. DerKonzern konnte es sich leisten, auf Werbeplakaten lediglicheine Grafik mit den aktuellen Produktionszahlen zu zeigen,mit dem Slogan: »Immer mehr und immer besser«.Der deutsche Automobilmythos erzählt bis heute vonIngenieurskunst, Qualität und Verlässlichkeit des deutschenAutos, um die uns alle Welt beneidet. Der größte Exportschlager, der VW Käfer, stand für deutsche Wertarbeit. Soberichtet der Volkswagen-Historiker Bernhard Rieger vonder Besessenheit, mit der die VW-Ingenieure nach den leisesten Klopfgeräuschen fahndeten, um die Qualität der Fahrzeuge sicherzustellen, nicht zuletzt als »Kompensation« fürzwei militärische Niederlagen.In solchen Geschichten manifestiert sich auch derStolz auf die wirtschaftliche Stärke des Landes, auf die ökonomische Selbstbewegung der Deutschen. »Größe dankExportkraft, an diese Linie der nationalen Selbstdeutungkonnte man anknüpfen, die Schuld vergessen machen undwieder Ansehen in der Welt gewinnen«, schreibt der Automobilhistoriker Wolfgang Sachs. Als der VW Käfer in denals »Wegbereiter moderner Technologie«, wie der Kulturhistoriker Wolfgang Kaschuba schreibt. So ließ Hitler dieMercedes-Silberpfeile mit Hakenkreuz-Fahnen über denNürburgring jagen, in den neu gebauten Reichsautobahnensah er den »Ausdruck deutscher Landschaft und deutschenLebens«. Bis heute verknüpft die Autowerbung gern diedeutschen Mythen Natur und Automobil.Hitler sah vor allem das propagandistische Potenzial einerMassenmotorisierung. DasAuto solle nicht länger einLuxusgut der Privilegiertenbleiben, erklärte er 1934. Essei ein »bitteres Gefühl«, Millionen Menschen von einemVerkehrsmittel ausgeschlossen zu sehen, das ihnen »zurQuelle eines bisher unbekannten, freudigen Glücks würde«.Was Hitler vorschwebte, das war ein erschwingliches Autofür jedermann. »Der Kraftwagen muss zu einem Volksverkehrsmittel werden«, verkündete er am 26. Mai 1938 bei derGrundsteinlegung des späteren Volkswagen-Werks.Auf einem Werbebild sah man eine Familie auf derReichsautobahn fahren, am Horizont ein Hakenkreuz; dieNS-Freizeitorganisation »Kraft durch Freude« bot sogareinen Sparvertrag zur Finanzierung an. Doch zur Fertigungdes Autos kam es während des Krieges nicht mehr. In der20HOHE LUFT

DER DIGITALE WANDELREVOLUTIONIERT DIE MOBILITÄTDoch der deutsche Automobilmythos bröckelt. Immer mehrMenschen können sich heute vorstellen, auf andere Verkehrsmittel umzusteigen; der Anteil der Privatkäufer an denNeuzulassungen geht zurück. In der älteren Generation istes bis heute üblich, am Sonntag den Wagen zu waschenoder beim Vorbeifahren an der Tankstelle die Benzinpreisezu kommentieren. Die Jungen haben zum Automobil schonein viel entspannteres Verhältnis. So ermöglichen digitaleKommunikationsgeräte eine ganz neue Form von Selbstbewegung – nämlich ohne sich vom Fleck zu rühren, wie derJournalist und Autor Hanno Rauterberg in seinem Buch »Wirsind die Stadt!« schreibt: »Die Ich-Kapsel des Automobilsbekommt Konkurrenz durch das iPhone.«Der digitale Wandel verändert auch das Autofahren.Das Elektroauto steht nach Ansicht vieler vor dem Durchbruch; das autonome Auto, gesteuert von künstlicher Intelligenz statt vom menschlichen Fahrer, ist in greifbare Nähegerückt. Eine Kombination dieser Technologien, zusammenmit Carsharing, könnte die Mobilität revolutionieren.»Das selbstfahrende Auto ist mehr als intelligente Technik«, schreibt Automobilexperte Dudenhöffer: »Es verändertunser Denken, unsere Gesellschaft, unsere Werte.« Dasselbstfahrende Auto würde nicht nur mehr Sicherheit bringen, sondern auch Zeitgewinn. Der »Fahrer« könnte sich mitanderen Dingen beschäftigen, er wäre nicht mehr der Heldhinter dem Lenkrad. Das autonome Auto bedeutet das Endeder Fahrerperspektive auf die Welt.Seit Jahren entwickelt sich das Automobil immer mehrzum rollenden Computer, mit über 100 vernetzten IT-Systemen und kilometerlangen Kabelsträngen, von der Motorsteuerung bis zum automatischen Einparksystem. Was die228 S., 100 farb. Abb., Hardcover 24,95. ISBN 978-3-8062-3631-650er-Jahren seinen weltweiten Siegeszug antrat, bildete er»das neue Gesicht des neuen Deutschlands – demokratisch,friedlich, eingebunden in die neue Gemeinschaft westlicherNationen«, so der britische Kunsthistoriker und Autor NeilMacGregor. Es ist auch dieser Mythos, an dem die deutschePolitik bis heute nicht rütteln will.Der Siegeszug des deutschen Automobils – das warder Triumph der Fahrerperspektive auf die Welt. In derganzen Automobilentwicklung ging es letztlich darum, dieseSelbstbewegung immer weiter zu perpetuieren, darum,das deutsche Hybridwesen aus Mensch und Automobil zuvollenden.Wer bin ich wirklich?Kann man seinenAugen trauen? Was isteine Tatsache? Wasgefällt uns und warum?Muss man alles inFrage stellen? Wassuchen wir eigentlichauf dem Mars? IstRache eine Lösung?Seit Jahrtausenden wenden sich die Menschenan die Philosophie, um die Fragen nach demGrund für die Welt und unsere Existenz zuergründen.Thomas Vašek beantwortet die 101 wichtigstenFragen, die uns im Alltag umtreiben, mithilfeder großen Philosophen.

AUTOMOBILsich nicht bei Tempo 200 auf der Autobahn, sondern in einerdigitale Vernetzung wirklich bedeutet, das beginnen dieintelligenteren Mobilität, in einer neuen Leichtigkeit desAutohersteller erst allmählich zu begreifen. Was sich verändeutschen Fahrens. Diese neue Mobilität könnte dem autodert, ist nicht bloß das Auto selbst. Es ist das Paradigma desmobilen Subjekt – jenem Hybridwesen aus Mensch undFahrens. Das automobile Subjekt verschwindet. »Das AutoTechnik, das in Deutschland seine am höchsten entwickelteder Zukunft wird nicht mehr nur isoliertes FortbewegungsGestalt angenommen hat – eine neue Subjektivität, eine neuemittel sein, sondern Teil einer in sich vernetzten MobilitätsLebensform schenken. Eine Identität, die vielleicht sogarwelt«, schreibt Dudenhöffer.mehr Freude macht als das Autofahren selbst.Das Ende des automobilen Subjekts bedroht nicht nurdie deutsche Autoindustrie. Es bedeutet womöglich auch das Ende einerSelbstbewegung, die wir Deutschengern mit Selbstermächtigung verwechseln. Die Deutschen haben das Auto Ferdinand Dudenhöffernicht nur erfunden. Wir haben auch WER KRIEGT DIE KURVE?die unendliche Idee, dass das deutsche Campus, 2016Auto das wahre, das universelle Auto Deutschlands bekanntester Automobilexperte analysiert diesei – eine Lebensform, die wir in alle Zeitenwende in der deutschen Automobilindustrie.Welt exportieren.Das Automobil war der deutsche Stephan RammlerTraum von Freiheit. Von einer unendli- VOLK OHNE WAGENchen Selbstbewegung, einer Bewegung Fischer, 2017um ihrer selbst willen. Doch dieses Aktuelle Streitschrift für das Ende des Autowahns und eine neueUm-ihrer-selbst-willen allein kann Form von Mobilität.keine zukunftsfähige Identität begründen. Es geht nicht darum, dass wir Peter Sloterdijkfahren, also in Bewegung bleiben, son- EUROTAOISMUSdern darum, wohin wir fahren. Eine Edition Suhrkamp, 1989deutsche Identität, für die »Freiheit« Sloterdijk über die »Weltreligion der kinetischen Moderne«Abhängigkeit vom Auto heißt, bewegt und das Auto als »rollendes Sakrament«.sich gleichsam im Rückwärtsgang –auf ihre Vergangenheit zu, die keine Wolfgang Sachsidentitätsstiftende Wirkung haben kann, DIE LIEBE ZUM AUTOM OBILweil sie keine Legitimation hat, sich Rowohlt, 1984weiter fortzusetzen.Das deutsche Auto als kulturelles Symbol und Objekt vonDer deutsche Automythos ist von Gefühlen und Wünschen – eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte.gestern, was wir brauchen, das ist eineradikal neue Idee, die am deutschen Langdon WinnerIngenieursgeist, am Qualitätswillen THE WHALE AND THE REACTORanknüpft, aber nicht bloß den Selbst- Chicago University Press, 1986zweck des Fahrens im Auge hat, son- Der amerikanische Philosoph betrachtet Technologien alsdern eine bessere, lebenswertere Welt. »Lebensformen« im Wittgenstein’schen Sinn.Wir können und wir müssen den »technischen Code« des Automobils radikal Andrew Feenbergumschreiben, auf demokratische Weise TRANSFORM ING TECHNOLOGY– als eine Art Programm für eine neue Oxford University Press, 2002Form der deutschen Selbstbewegung. Der amerikanische Philosoph entwickelt eine »kritische Theorie«Die Freiheit der Deutschen realisiert über die soziale und politische Dimension der Technik.L EKTÜRE22HOHE LUFT

»Deutschland hat das Auto erfunden, perfektioniert und sich . in einen Mercedes-Benz aus dem Jahr 2017 steigen könnte, käme er vermutlich gut zurecht. Lenkrad, Gaspedal, . wer oder was dieses Programm geschrieben hat. Eine Technologie wie das