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Leseprobe aus:ISBN: 978-3-498-05805-0Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.

Eugen RugeFOLLOWERVierzehn Sätze über einen fiktiven EnkelRomanRowohlt

1. Auflage September 2016Copyright 2016 by Rowohlt Verlag GmbH,Reinbek bei HamburgSatz Kepler MM PostScript, InDesign,bei Pinkuin Satz und Datentechnik, BerlinDruck und Bindung CPI books GmbH,Leck, GermanyISBN 978 3 498 05805 0

1Als es ihm endlich gelungen war, die Starre des Halbschlafs zu überwinden, die Finger und schließlich den ganzen Arm zu bewegen und denLichtschalter zu betätigen, den er instinktiv schräg hinter sich gesuchthatte, sah Schulz im Schein einer total veralteten OLED-Lampe:das Fußende eines riesigen Doppelbetts, unter dessen aufgeworfenerBettdecke seine Füße zu vermuten waren,dahinter einen Bildschirm, auf dem eine weiße Fliege umherschwirrte,links eine akkurat gewellte Gardine von undefinierbarer Farbe, diedie ganze Wand von der Zimmerdecke bis zum Fußboden bedeckte,sowie, unmittelbar neben sich, ein Nachttischchen mit einem Wasserglas, einem mattweiß beschirmten Lämpchen und einem vorsintflutlichen Schnurtelefon, das es so nur noch in Hotelzimmern gab,aber trotz dieser halbwegs gesicherten Anhaltspunkte, trotz derKnitterfalten seines verschwitzten Schlafanzugs im Rücken und derTrockenheit in seiner Mundhöhle wollte sich ein Wirklichkeitsgefühlnicht recht einstellen, das Rauschen der Klimaanlage nivellierte die Sinne, das Flimmern der uralten OLED-Lampe gab dem Raum etwas chimärenhaft Unzuverlässiges, und besonders die unfarbenen Gardinenkamen Schulz auf einmal unecht vor, als gäbe es gar kein Fenster dahinter, schlimmer noch: als wären sie in Wirklichkeit gar nicht zu öffnen, Nachbildungen aus einem unbeweglichen Material, und dieserEindruck wurde ihm so unangenehm, dass er das Licht gleich wiederausschaltete,aber auch die Tatsache, dass sich die ganze Chimäre durch eine winzige Schalterbewegung zum Verschwinden bringen ließ, trug nicht zurStärkung seines Wirklichkeitsgefühls bei, einzig die Fliege schien echt zusein, die fette weiße Fliege, die, eine schwach bläulich leuchtende Spurhinterlassend, durch die Dunkelheit glitt, um auf enervierend vorhersehbare Weise gegen die Ränder des Bildschirms zu prallen, und die, wieSchulz wusste, in Wirklichkeit keine Fliege war, sondern die Uhrzeit,7

vorausgesetzt, man war nicht leicht weitsichtig oder hatte seine Brilleauf,aber Schulz war leicht weitsichtig und hatte keine Brille auf, seineGlass lag auf dem anderen, dem entfernteren Nachttisch, wo er sie, wieer sich schwach erinnerte, abgelegt hatte, aus Angst, er könnte das Wasserglas, das er für die Nacht bereitgestellt hatte, im Halbschlaf darüberkippen, und der Aufwand, sich auf den Bauch zu drehen und über dieandere Seite des riesigen Doppelbetts zu kriechen, um die Glass vomanderen Nachttisch zu holen, erschien Schulz so ungeheuerlich, dass erden Gedanken sofort wieder verwarf und stattdessen darüber nachzudenken begann, wo er eigentlich war, womöglich rührte sein Unwirklichkeitsgefühl einfach daher, dass er keine Orientierung oder, wie ersagen würde, keine Peilung hatte, er war buchstäblich noch nicht ganzda, ein Zustand, der ihm durchaus bekannt vorkam: die sekundenlangeUnschärfe nach dem Erwachen, die Bilder, die ineinander übergingen,bis sich endlich ein Name, eine Ortsbezeichnung einstellte,aber es stellte sich kein Name ein und keine Ortsbezeichnung, er sahlediglich die Zeitfliege, die mit enervierender Stupidität gegen die unsichtbaren Ränder des Bildschirms prallte und keinen Aufschluss überseinen Aufenthaltsort zuließ, denn die Zeitfliege gab es in zahllosen Hotels dieser Welt, nämlich in allen, die ihren Netzanschluss von UNIVERSE hatten, es war die nicht abschaltbare Zeitfliege von UNIVERSE,und je länger Schulz auf die nicht abschaltbare Zeitfliege von UNIVERSE starrte, desto lästiger wurde sie ihm, natürlich könnte er die Augenschließen, aberals er die Augen schloss, sah er immer noch die Zeitfliege, schlimmer noch, jetzt hatte er die Zeitfliege im Kopf, jetzt prallte sie von innengegen seine Schädelwände, schwirrte durch das Innere seines Kopfes,als wäre sein Kopf ein leerer Raum, den die nicht abschaltbare Zeitfliegevon UNIVERSE ungehindert durchqueren konnte, was selbstverständlich unsinnig war, trotzdem wunderte er sich und war zugleich verwundert darüber, dass er sich mitten in der Nacht plötzlich darüber wunderte, nämlich über die Tatsache, dass man das eigene Gehirn gar nichtwahrnahm, den Ort, wo das Ich sitzen müsste, aber wenn er versuchte, den Ort auszumachen, an dem sein Ich sich befand, wanderte sei-8

ne Aufmerksamkeit fast automatisch zu Mund und Nase, genauer: zuRachenhöhle und Nasenschleimhaut, wo er eine enorme, eine geradezuexistenzielle Trockenheit feststellte, und bevor er den Gedanken ganz zuEnde gedacht, bevor er etwa die seltsame Kongruenz von Trockenheitund Ich-Gefühl vollständig erfasst und einen Satz wie Ich bin dehydriertgebildet hatte,öffnete irgendein Neurotransmitter einen Kanal in der Membran irgendeiner Nervenzelle des für Nio Schulz nicht wahrnehmbaren Gehirns und ermöglichte auf diese Weise den Zustrom von ein paar tausend positiv geladenen Kaliumionen, wodurch das Ruhepotenzial derZelle aufgehoben und ein elektrisches Signal an ein Motoneuron gesendet wurde, welches wiederum ein Signal in das Muskelgewebe sandteund damit die chemische Konfiguration der Myosinmoleküle veränderte mit der Wirkung, dass die Filamentproteine in ungefähr zwölf verschiedenen Muskeln beziehungsweise Muskelgruppen von Nio Schulzunter Abbau von Adenosintriphosphat kontrahierten, kurz gesagt:Schulz griff zum Wasserglas,und schon während er zum Wasserglas griff, und nicht nach demersten Schluck, wie er sich kurze Zeit später einreden würde, um seine Ortsvergesslichkeit mit temporärer Dehydration zu entschuldigen,schon während des Griffs zum Wasserglas erinnerte sich Schulz:zuerst an die Beta-Flux, die er gestern Abend eingeworfen hatte,denn in Kenntnis der Nebenwirkungen des Medikaments – Durst – hatte er das Wasserglas vorsorglich bereitgestellt,und im nächsten Augenblick an den Grund, aus dem er die Beta-Flux genommen hatte, denn obwohl es sich bei dem Präparat umein Instant-Antidepressivum handelte, benutzte Schulz Beta-Flux alsSchlafmittel, allerdings nur ausnahmsweise, in diesem Fall wegen des zuerwartenden Jetlags,und bei dem Gedanken an den Jetlag fiel ihm, etwa in dem Moment,als er das Glas an die Lippen setzte, sogar ein, wo er war, zumindesthatte er plötzlich Bilder von seiner Ankunft vor Augen: das futuristischeTerminal, die rot-weißen Uniformen der HTUA-Polizei, die junge Fraumit der fotoidentischen Atemschutzmaske, der er nachgeschaut hattewie einer verflossenen Geliebten, und zusammen mit der Erinnerung9

an die FAMA, wie die fotoidentische Atemschutzmaske firmeninterngenannt wurde, kam auch das Bewusstsein darüber, warum er diesesMal hier war: True Barefoot Running, Termin um zehn Uhr,und beim Gedanken an den Termin um zehn Uhr öffnete Schulzunwillkürlich die Augen und versuchte, die nicht abschaltbare Zeitfliegevon UNIVERSE in eine Ziffernfolge zu zergliedern, aber die Neun, diebeim Zusammenkneifen der Lider in der Stundenanzeige aufflackerte,konnte nicht stimmen, denn erstens war es, der Dunkelheit hinter denGardinen nach zu urteilen, noch mitten in der Nacht, es sei denn, eshandelte sich tatsächlich um nachgemachte Gardinen ohne ein Fensterdahinter,ein Gedanke, den Schulz inzwischen eher unplausibel fand, außerdem war er sich ganz sicher, den Weckimpuls auf halb acht gestelltzu haben, und er konnte sich nicht erinnern, geweckt worden zu sein,schon gar nicht erinnerte er sich an F1, wie er die freundliche Aufwachstimmung, die er seit einigen Wochen mit Vorliebe verwendete, verschämt zu nennen pflegte,im Gegenteil, er erinnerte sich, wenn er in Richtung Schlaf zurückdachte, an ein Gefühl von Lähmung, an ein unangenehmes, schweresErwachen: ein Traum, begriff Schulz, und obwohl ihm keine Einzelheiten mehr einfielen, wusste er, dass es ein hässlicher, bösartiger Traumgewesen war, wie er ihn lange nicht mehr gehabt hatte, allerdings träumte er kaum noch in letzter Zeit, genauer gesagt, seit er sich von dem Chipwecken ließ,oder war etwas schiefgegangen,hatte jemand seinen Account gehackt und seinen Weckimpuls manipuliert,idiotischer Gedanke: wer sollte Interesse daran haben, seinen Weckimpuls zu manipulieren, das war paranoid, dachte Schulz, wobei dasWort in seinem Kopf so klang, wie seine aus Bulgarien stammende Chefin es aussprach, paranuid, dachte Schulz, und er wollte auf keinen Fallparanuid sein, sogar wenn seine Chefin gar nicht dabei war, wollte ernicht paranuid sein,es sei denn, Jeff hätte seine Weckzeit verstellt, dieses Arschloch, undauch wenn er nicht ernsthaft glaubte, dass Jeff seinen Account gehackt10

und seine Weckzeit verstellt hatte, ja, dass Jeff technisch überhaupt dazu in der Lage wäre, merkte Schulz, wie er langsam über den Oberarmauf die Seite und auf den Bauch rollte und mit sonderbar raupenartigenBewegungen über die unberührte Doppelbetthälfte zum entfernterenNachttisch zu kriechen begann, um dort erwartungsgemäß seine Glasszu finden, sie aufzusetzen und festzustellen,dass die Zeitfliege 6 : 11 anzeigte,dass die Glass ebenfalls 6 : 11 anzeigte,dass es also in China 6 : 11 war, genauer gesagt, in HTUA-China (seitder Aufteilung Chinas in kommerzielle Sektoren hatten HSBC, Toyota,UNIVERSE und Alibaba eine eigene Zeitzone eingeführt),weshalb Schulz die Glass wieder abnahm, die Decke über den Kopfzog, sich in eine embryonale Haltung hineinkrümmte und versuchte,noch einmal einzuschlafen,nicht an die Zeitfliege von UNIVERSE zu denken,auch nicht an den Termin um zehn Uhr,schon gar nicht an Jeff, das Arschloch,aber auch nicht, jedenfalls im Augenblick nicht, an Sabena, die vermutlich gerade über die Textilmesse in Minneapolis spazierte und irgendwelchen Typen die Farbtrends und Materialzusammensetzung deraktuellen AIMANT-Kollektion präsentierte,sondern seine Gedanken auf etwas Positives zu richten,nämlich auf jene freundliche Aufwachstimmung, die ihn am anderen Ende des Schlaftunnels erwartete und die er F1 nannte, was, obwohl er es nie vollständig aussprach, ja, sogar zu denken vermied, soviel heißen sollte wie Ferienstimmung eins, denn obwohl der Herstellerdes Chips, wie das Implantat fälschlicherweise genannt wurde – tatsächlich handelte es sich um drei harmlose, jeweils in den Frontlappen, denSchläfenlappen und die Amygdala eingelassene Haarelektroden – , obwohl der Hersteller bloß «allgemeine Stimmungslagen» versprach, dieman «auf eigene Gefahr» generieren konnte, hatte Schulz nach einigenWochen durch Zufall eine Impulskombination gefunden, die ihn beimErwachen frappierend an seine Kindheit erinnerte – Hochsommer, Ferien, lange schlafen, draußen ist es schon helllichter Tag – , und wenner sich in die Stimmung hineinversetzte, glaubte er sogar, die Tauben11

gurren zu hören, und nach einer Weile war sogar dieser Geruch da: derGeruch von frisch gemähtem Gras,trotzdem war er nicht imstande, die Szene zu lokalisieren, zumalder Geruch von frisch gemähtem Gras sofort eine andere, aktuellereAssoziation hervorrief, nicht Ferien und Kindheit, sondern Baumarkt:Schulz dachte an jene klassische Studie (erstes Semester Marketing &Communication), der zufolge der Geruch von gemähtem Gras die Meinung der Kunden über die Kompetenz eines Baumarkt-Verkäuferteamssignifikant positiv beeinflusste,was ihn zu der Überlegung führte, ob Methoden des Geruchsmarketings nicht auch bei der Vermarktung von True Barefoot Running einsetzbar wären, natürlich nicht am Produkt selbst, das ja in gewisser Weise immateriell war, aber bei den produktbegleitenden Fußbändern, deren Einführungspreis er immer noch für überzogen hielt, was ihn wieder an den bevorstehenden Termin denken ließ: an die Chinesen, denener gegenübersitzen würde, und die, wie er aus Erfahrung wusste, immerin der Überzahl waren, nie schwitzten und stets undurchschaubare, versteinerte Gesichter zur Schau stellten,und bei der Vorstellung von den niemals schwitzenden, versteinerten Chinesen, die stets in der Überzahl waren, hatte er auf einmal dasGefühl, dass er nichts in der Hand hatte, absolut nichts, nur Image-Prospekte, Statistiken, Factsheets, die er durchaus überzeugend fand, solange seine Chefin redete, aber wenn er an die niemals schwitzenden, versteinerten Chinesen dachte, erschien ihm das alles auf einmal vollkommen irrelevant, was verkaufen wir eigentlich, dachte Schulz, während erspürte, wie ihm der Schweiß austrat,und im Moment, da ihm der Schweiß austrat, wusste er, dass ihmauch dort, vor den niemals schwitzenden, versteinerten Chinesen derSchweiß austreten würde,aber das war schon wieder negativ, dachte Schulz, wobei das Wortnegativ in seinem Kopf so klang, wie seine aus Bulgarien stammendeChefin es aussprach, negertief, dachte Schulz und fragte sich, ob seineChefin vielleicht wirklich glaubte, es heiße negertief, wobei negertief tatsächlich ziemlich negativ klang, viel negativer als negativ,12

dachte Schulz, auch wenn er im Augenblick gar nicht genau hättesagen können, was das eigentlich bedeutete: neger, irgendetwas Dunklesund Verbotenes, stellte er sich vor, irgendein So-etwas-sagt-man-nichtWort, glaubte er sich zu erinnern,aber statt morgens um kurz nach sechs über So-etwas-sagt-mannicht-Wörter nachzugrübeln (er würde es nachher googeln), war es vernünftiger, noch ein, zwei Stündchen zu schlafen und sich nach demFrühstück das Compact über Die Bedeutung der Marke im postpostmateriellen Zeitalter vorzunehmen, das seine Chefin vorgestern gepostethatte, dachte Schulz und versuchte abzuschalten, nicht zu denken,weder an etwas Dunkles, Verbotenes,noch an Jeff,nicht an versteinerte Chinesenund auch nicht an Sabena, die vermutlich gerade irgendwelche Typen über den Stand von AIMANT-Dessous führte,obwohl es, genau genommen, gar nicht stimmte, es waren keineswegs nur Typen, zumindest waren auf den Fotos, die sie zu posten pflegte, durchaus auch Frauen zu sehen, sogar, wenn man nachzählte, mehrFrauen als Männer, trotzdem stellte Schulz sich immer nur Typen vor,irgendwelche Startupper in Designerklamotten, oder, noch schlimmer,irgendwelche melierten Textilbosse mit Echthornbrillen,obwohl er in Wirklichkeit keine Ahnung hatte, was Sabena geradetat, wie spät war es in Minneapolis?, womöglich schlief sie noch oder siefrühstückte, und es gab, jedenfalls für den Augenblick, keinen Grund,an irgendwelche Startupper oder Textilbosse zu denken, die sie über denStand von AIMANT-Dessous führte,und nachdem Schulz eine schwer bestimmbare Zeit, aber nach denFlugbahnen der nicht abschaltbaren Zeitfliege von UNIVERSE zu urteilen, doch ziemlich lange. versucht hatte, die Zeitverschiebung zuMinneapolis zu ermitteln und, entsprechend der Erddrehung, von derHTUA-Zeit abzuziehen oder, er wusste es nicht, zu addieren, nahm erdie Glass vom Nachttisch, setzte sie auf und führte den rechten Zeigefinger zum Brillenbügel, genauer gesagt, zum vorderen Teil des Bügels,wo sich der Fingerprintsensor befand, um festzustellen,13

dass der Fingerprintsensor wieder mal nicht funktionierte, vielleichtlag es an seinen schweißigen Händen oder, so stellte Schulz sich vor, anden durch die Schlafwärme gedehnten Poren, jedenfalls erklang als Reaktion auf den gescheiterten Log-in-Versuch jene wohlbekannte, nichtpersonalisierbare Stimme aus dem Basic-Input / Output-System mit derwohlbekannten Aufforderung:checking identity please repeat the scan,weshalb Schulz, nachdem er die Finger am Laken abgewischt hatte, denScan wiederholte, was aber lediglich zu einer Wiederholung der Log-inAufforderung führte,und wenn die Stimme bisher ein reines Audiophänomen gewesenwar, körperlos und schwebend, passierte es Schulz nun, dass er im FastDunkel des Morgens ein Wesen zu halluzinieren begann, künstlich wiediese Stimme, eher weiblich, aber vielleicht auch neutral, eine Art Barbiepuppe, die mit jedem checking identity deutlicher hervorzutretenschien – wie in dem Traum, an den er sich jetzt gegen seinen Willenerinnerte, wenn auch nur an ein einziges Bild, nämlich an eine ebensolche puppenhafte Gestalt, die ihm mit ausgebreiteten Armen den Zugang versperrt hatte, oder war es ein Ausgang gewesen, jedenfalls riefdas Bild ein beklemmendes Gefühl in ihm wach, ein Gefühl vollständigen Eingesperrt-Seins oder Ausgesperrt-Seins oder Abgetrennt-Seins,aber bevor dieses Gefühl ihn ganz erfasste, nahm Schulz die Glassvom Kopf,sprang auf,trat ans Fensterund riss die unfarbenen Gardinen auseinander.14

2Er liebte es, heiß zu duschen, auch wenn es gewiss nicht hautfreundlich war, wie auch tägliches Shampoonieren gewiss nicht hautfreundlich war, aber er liebte auch Shampoos und besaß verschiedene für verschiedene Gelegenheiten – für die heutigen Verhandlungen hatte er einProdukt der Marke Go! ausgewählt, einen teuren und kompliziertenMix aus Pheromonen und pflanzlichen Duftstoffen, der dem GegenüberKompetenz und Entschlossenheit vermitteln, andererseits aber auch anziehend und stimmungsaufhellend wirken sollte,und tatsächlich hellte sich Schulz’ Stimmung sofort auf, als sich dieAromen in der Duschkabine verbreiteten, obwohl er wusste, dass die eigentliche Geruchswirkung unterschwellig blieb und nur so funktionierte, während die wahrnehmbaren Bestandteile, in diesem Fall Bitterorange und Ananas, lediglich dazu dienten, den buttersauren Schweißgeruch zu überdecken, oder war es eine chemische Reaktion, er glaubtesich zu erinnern: Buttersäure plus irgendwas ergab irgendwas, das nachAnanas roch, Praktikum Geruchsmarketing, Schulz warf den Kopf nachhinten, schnappte nach Duschwasser und glaubte mit einem Mal dasGewicht seines Gehirns zu spüren,weshalb er das Gurgelwasser ausspuckte und die Bewegung wiederholte, den Kopf mehrmals nach vorn und nach hinten warf, dann zurSeite, trotzdem fiel ihm die Formel für den Ananasgeruch nicht ein,stattdessen musste er wieder an die Chinesen denken: warum schwitzten die nicht, gab es ein Schweiß-Gen, konnte man es manipulieren, undwenn ja, warum hatte man es noch nicht manipuliert, oder hatte er bloßnoch nicht davon gehört,er schaltete von Handdusche auf Regendusche um und ließ sich eineZeitlang sinnlos vom heißen Wasser berieseln, obwohl ein großes Schildim Badezimmer daran erinnerte, dass die Region in besonderer Weiseunter Wasserknappheit litt, allerdings fand Schulz, dass er vor einem sowichtigen Termin ein gewisses Recht hatte, sinnlos zu duschen, er warsogar bereit zu glauben, dass sein Erfolg irgendwie von der Duschzeitabhinge, Aberglaube, gewiss, trotzdem blieb Schulz lange mit geschlos-15

senen Augen unter der Dusche stehen und ließ seine Gedanken ungehindert durch sein wieder wahrnehmbares Gehirn fließen, ohne sichvon ihnen berühren zu lassen, wie es beim Motivationscoaching hieß:Ananas Buttersäure Chinesen nur die Frage, ob er vor dem Frühstück eine L-Carnetin einwerfensollte, verhakte sich irgendwie, wollte beantwortet werden, aber Schulzentschied sich gegen den Appetitzügler, weil er eine kräftige Energiezufuhr vor einem so wichtigen Termin als günstig ansah, stattdessen könnte er eine MetaKin nehmen, ausnahmsweise, er war schließlich nicht abhängig, die anderen in der Firma fraßen andauernd irgendwelche BrainTuner,obwohl bei den Coachings immer wieder sanfte Methoden zur Vorbereitung empfohlen wurden, Entspannung, positive Gedanken, Schulzversuchte es mit der Denk-an-deine-Erfolge-Methode, während er daswarme Duschwasser an sich herabrieseln ließ, tatsächlich hatte er janicht wenige Erfolge aufzuweisen, und das Gefühl, diese Erfolge lägensehr weit zurück, entsprach nicht der Wahrheit, sein Ranking war immer noch gut, er war, bis auf die Sache mit der FAMA, eigentlich immererfolgreich gewesen, er hatte immer Top-Umsätze gehabt und gleichmehrere Bestseller in China gelandet: den Nachtfederball mit fluoreszierendem Knicklicht oder das essbare Zimmermädchenkostüm,und dass die FAMA trotz ihrer massenhaften Verbreitung in Asien(geschätzt: dreißig Millionen) für CETECH ein Flop geworden war, lagschließlich nicht an ihm, sondern an der Rechtsabteilung, genauer gesagt, an jenem Richter, der nicht etwa die Erfindung geschützt wissenwollte, sondern das Recht am eigenen Gesicht: ein Skandal, wie man beiCETECH fand, denn nach dieser Logik besäße ja jeder Porträtierte dieRechte an seinem Porträt, und tatsächlich gab es keine Vorwürfe vonSeiten der Firma, niemand lastete ihm den Flop an, und doch hatte erdas Gefühl, dass seine Chefin ihn seitdem anders anschaute, aufmerksamer, dass sie ihn öfter ins Leere, genauer gesagt, in ihr Schweigen hineinlaufen ließ, wohingegen ihr Schweigen, wenn Jeff sprach, von ihmstets als Zeichen des Einverständnisses empfunden wurde,aber das war schon wieder negertief, dachte Schulz und begann seineHaare ein zweites Mal einzuseifen, möglicherweise lag es an ihm, mög-16

licherweise war er überempfindlich, weil er im Grunde selbst das Gefühlnicht loswurde, für den FAMA-Flop verantwortlich zu sein, und sei esnur dadurch, dass er die Entscheidung des Schiedsgerichts nicht ganzso skandalös fand, wie er vorgab, schlimmer noch, dass er den Standpunkt der Gegenseite sogar bis zu einem gewissen Grad nachvollziehenkonnte, und wenn er ganz ehrlich war, plagte ihn bis heute die unsinnige, aber zählebige Vorstellung, der Prozess sei verloren worden, weil er,Nio Schulz, nicht hundertprozentig vom eigenen Standpunkt überzeugtgewesen war,und auch wenn das niemand bemerkt hatte und auch nicht bemerkthaben konnte, denn selbst wenn sie – paranuid! – seinen Account gehackt hätten, wären keine digitalen Spuren seines Zweifels zu finden gewesen – auch wenn also niemand etwas bemerkt haben konnte, fühlteSchulz sich, egal, ob virtuell oder physisch, in der Firma unwohl, er argwöhnte, dass man ihm nicht glaube, wenn er sich über die skandalöseEntscheidung des Schiedsgerichts erregte, oder hatte den Verdacht, dassseine Chefin, wenn sie ihn bloß eine Sekunde zu lang anschaute, ihnprüfe, seine Festigkeit, seine Loyalität, seine Echtheit, und das genügte,damit er sich tatsächlich unecht zu fühlen begann, tatsächlich wurdenseine Gesten und Bewegungen unnatürlich und automatenhaft, tatsächlich klang, was er sagte, aufgesetzt, es war, dachte Schulz, im Grunde dasEcho seiner eigenen Gedanken, es war sein eigener Verdacht, der aufihn zurückfiel und ihn zu dem machte, was er in den Augen der anderenfürchtete zu sein,und plötzlich glaubte er zu begreifen, wie positives Denken funktionierte, nämlich genau so, dachte Schulz, nur umgekehrt: indem ervon sich überzeugt war, war er überzeugend, indem er an seinen Erfolgglaubte, hatte er Erfolg, so einfach war das, dachte Schulz, im Grundehatte er das schon immer gewusst, und doch war es in diesem Momenteine Erleuchtung, eine Eingebung, ein Gewahren mehr als ein Verstehen: Go!, dachte Schulz,und wenngleich er den Go!-Spot ein bisschen primitiv fand, überkam ihn auf einmal die Lust zu schreien, was er aus Rücksicht auf mögliche Zimmernachbarn jedoch unterließ, besser gesagt: sich für einengeeigneten Zeitpunkt aufhob, für einen geeigneten Ort, nur wo konnte17

man eigentlich ungestört schreien: im Frühstücksrestaurant, im Taxi,auf dem Weg zum chinesischen Geschäftspartner, fragte sich Schulz,und erinnerte sich, wie Jeff kürzlich behauptet hatte, vor jedemwichtigen Geschäftstermin sämtliche Übungen zu absolvieren, von derMeditation bis zum Motivationsschrei, woraufhin Schulz so getan hatte,als ob er dies ebenfalls tue, dabei hatte er noch nie vor einem wichtigenGeschäftstermin geschrien, aber vielleicht sollte er es probieren,dachte Schulz und versuchte, wenn auch nur andeutungsweise, zuschreien, sozusagen innerlich, dennoch glaubte er nach einigen innerlichen Schreien eine Wirkung zu spüren: tatsächlich hatte er das Gefühl, ein Stück größer zu werden, tatsächlich merkte er, wie seine Brustsich weitete und sein Atem freier wurde, tatsächlich nahm er die Energie wahr, die seinen Körper durchströmte, und im nächsten Augenblickerhob er sich wie Tox Rider, der Mutant in der berühmten dritten Folgevon Life or Death, ein Stück in die Luft und spaltete mit konzentriertenHandkantenschlägen versteinerte Chinesen, die einer nach dem anderen zerbröselten wie Kekse,Killerinstinkt, nannte es sein Motivationscoach, und Schulz fragtesich, ob Jeff ihn hatte, mit seinen eins achtundsechzig Körpergröße undseinen Muskelimplantaten, ob er den Killerinstinkt hatte, ob er die Energie fühlte, aber wie fühlte man Energie, wenn sie Silikon-Implantate durchströmte, Jeff bestand ja hauptsächlich aus Silikon-Implantaten,aus schicken, aber nutzlosen Silikon-Implantaten, sogar sein Gesichtschien aus Silikon-Implantaten zu bestehen, und wenngleich Schulz zugeben musste, dass er selbst schon über eine kleine Nasenkorrekturnachgedacht hatte, dafür hatte er kein Verständnis, er empfand sogareine gewisse Verachtung für dieses synthetische Bodybuilding, wie esneuerdings unter jungen Menschen in Mode kam, weil es, wie behauptet wurde, gesünder sei, als Gewichte zu stemmen und Eiweißpräparate zu fressen, nein, Schulz war stolz auf seinen in Handarbeit und, zugegeben, mit Unterstützung von ein paar Appetitzüglern und Fatburnern getrimmten Körper, ihm gefiel sein Bizeps, der sich, wenn er ihnanspannte, wie ein kleines Tier unter der Hautdecke bewegte, es machteihm Spaß, seinen musculus pectoralis zucken zu lassen oder die gekerb-18

te Landschaft zu betrachten, die er auf seinem Bauch hervorzuzaubernimstande war,oder war das masku, fragte sich Schulz, war das trollig, war das einRelikt, wie es bei den AKWs hieß, war die Zufriedenheit mit einem kontraktionsfähigen Bizeps schon latente Gewalt, fragte sich Schulz, während er mit seifiger Hand die Beschaffenheit seiner mühsam am Kabelzug trainierten Pobacken prüfte, aber er fand auch seine mühsam amKabelzug trainierten Pobacken ziemlich in Ordnung, er fand sie wohlgeformt, ja, er fand seine mühsam am Kabelzug trainierten Pobackeninsgeheim sogar sexy, was ihn auf den Gedanken brachte, dass das Gefallen am eigenen männlichen Körper, das ja einen eindeutig homoerotischen Aspekt hatte, gar nicht masku sein konnte, infolgedessen wäre auch das Gefallen am eigenen männlichen Körper politisch korrekt,kurz p.c. oder, wie es in Schulz’ Kopf klang: pisi,und mit diesem Entschluss beendete er den Duschvorgang und begann seinen Körper zu frottieren, systematisch und kraftvoll, aber auchnicht zu kraftvoll: um seine ein bisschen zu heiß und ein bisschen zulange geduschte Haut zu schonen, frottierte er zuerst den vorderen Bereich, von Nabel bis Kopf, wofür er stets die Mitte des Badehandtuchsbenutzte, sozusagen die A-Seite, während die Mitte der B-Seite dem Rücken vorbehalten blieb, den er, das langgezogene Badetuch in den ausgestreckten Armen, nach dem Prinzip einer Zweimannsäge bearbeitete,um zuletzt den oberen, das heißt den zum Aufhänger gerichteten Teildes Handtuchs, und zwar wieder die A-Seite, zum Abrubbeln des rechten und die B-Seite entsprechend zum Abrubbeln des linken Arms zunutzen,allerdings fehlte der Aufhänger an dem Hotelbadetuch, was Schulzfür einen Moment aus dem Rhythmus brachte, denn auch wenn er ohneweiteres eine beliebige Seite als oben hätte definieren könnten, entstanddie Frage, wie er heute Abend oder morgen früh diese obere, also dieArm-Seite im Unterschied zur Bein-Seite wiedererkennen sollte, und imNachdenken über diese lästige Frage verharrte Schulz einen Augenblickreglos vor dem leicht beschlagenen Badezimmerspiegel im vierzehntenStock des Home Inn,19

betrachtete seinen im Verhältnis zum inneren Empfinden plötzlichweniger imposanten, wenngleich immer noch akzeptablen Körper,prüfte, da er in der Rechten das Handtuch hielt, mit der linken Handdie Rasur des Intimbereichsund fragte sich, noch bevor er im Hinblick auf die Rasur zu einemEntschluss gekommen war, ob es möglich sei, dass er schwul war, jedenfalls schwul genug, um die, wie seine Sexualkundelehrerin Frau DoktorLeim es genannt hatte, gleichgeschlechtlichen Anteile seines Selbst zumZuge kommen zu lassen,und in den wenigen Sekunden, die es dauerte, bis er nach dem Rasierschaum griff und sich den Intimbereich einzusprühen begann, gingen Schulz die Implikationen einer solchen Entscheidung durch denSinn, beginnend mit dem am nächsten Dienstag fälligen Bekenntnis,bei dem er, zur Überraschung aller, bekennen würde, in Wirklichkeitschwul zu sein,womit seine Karriere bei den AKWs beendet wäre, genauer: denAKWHs, den Anonymen Kritischen Weißen Heterosexuellen, geradejetzt kam es auf jenes H an, das von den Teilnehmern gewöhnlich unterschlagen wurde, er sah Stonys verdattertes Gesicht schon vor sich, hörteden Applaus, der bei gelungenen Bekenntnissen fällig war, schritt schonim Geist die geschwungene Steintreppe der Steve-Jobs-Oberschule hinab, wo die regelmäßigen Sitzungen seiner Gruppe stattfanden,allerdings, fiel ihm ein, wäre damit wohl auch seine Beziehung zuSabena beendet, ein Gedanke, der ihn für einen Moment irritierte undsogar erschreckte, aber zugleich, und das erschreckte ihn beinahe nochmehr, erleichterte: die Vorstellung von einem Leben ohne den notorischen Wartezustand zwischen ihren Treffen, ohne die latente Schuld,die er Sabena gegenüber empfand, ohne die Sorgen, die Eifersucht, dieMinderwertigkeitsgefühle, wenn er wieder, wie gestern (oder war es vorgestern gewesen?) versagt hatte: plötzlich gäbe es eine Erklärung, plötzlich wäre sein Versagen kein Versagen mehr, sondern, im Gegenteil, einAusbruch, eine Befreiung,das einzige Problem dabei war, dass er keine Lust auf Männer hatte, auch wenn es im Hinblick auf die Entwicklung der Weltbevölkerung wünschenswert wäre, wie Doktor Leim mehr als einmal erklärt hat-20

te – und auch wenn sexueller Genuss ohne vaginale Penetration möglich war, blieb er anscheinend unverbesserlich auf vaginale Penetrationfixiert, schon die Vorstellung einer vaginalen Penetration erzeugte eine gewisse Erregung, obwohl die Vorstellung beschämenderweise nichtmit Sabena verbunden war, sonde

Leseprobe aus: ISBN: 978-3-498-05805