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titel 09.08.2005 14:14Uhr Seite 1

00 Q Skript Wahrn innen.qxd 09.08.2005 14:15Uhr Seite 2InhaltWie wir sehen – Teamarbeit im GehirnBlind für Veränderungen – Aufmerksamkeit und WahrnehmungOptische TäuschungenWelt in Scherben – neurologische WahrnehmungsstörungenVermischte Sinne: Bunte Töne schmecken süßGespür für Gefahr: Sinne bei TierenDie geheimen Verführer – unbewusste WahrnehmungKaufen ohne Verstand? Hirnforscher und MarketingLesetippsLinktippsImpressumText:Uli Grünewald,Alexandra Hostert,Jakob Kneser,Georg WieghausRedaktion und Koordination: Claudia HeissWunder Wahrnehmung – von Sinnestäuschungen und HirngespinstenCopyright: WDR Juni 2005Weitere Informationen erhalten sie unter: www.quarks.deGestaltung: Designbureau Kremer & Mahler, KölnDiese Broschüre wurde auf 100 % chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.Bildnachweise:Alle Abbildungen wdr2347913161922242930

00 Q Skript Wahrn innen.qxd 09.08.2005 14:15Uhr Seite 4Wie wir sehen – Teamarbeit imGehirnKein Kino im KopfDie Biene auf demHonigbrötchen, wie schnellerfasst das menschliche Gehirndie Situation?Was passiert beim Sehen im Gehirn? Für die meistenMenschen ist es so selbstverständlich sehen zu können,dass sie sich darüber kaum Gedanken machen. Wenn dochdann gehen sie häufig davon aus, dass sie eine ArtFotoapparat oder Filmkamera im Kopf haben. Das Augestellen sie sich als Linse eines Projektors vor, von der dasBild irgendwie statt auf eine Leinwand in das Bewusstseinprojiziert wird. Tatsächlich existiert das Bild der Welt, sowie es auf einem Foto zu sehen ist, nur bis auf die Netzhaut. Danach geht es in ein Feuerwerk von elektrischenImpulsen über. Nur diese Nervenimpulse kann das Gehirnverarbeiten.Scharf auf Kontraste: das SehzentrumDie primäre Sehrinde reagiertbesonders stark auf Kanten undKonturenEntlang dem Sehnerv laufen die Nerven-Impulse auf diegegenüberliegende Seite des Gehirns zur primären Sehrinde. Je nachdem welches Bild auf die Netzhaut fällt, istdieser Gehirnbereich mehr oder weniger aktiv. Und er reagiert bevorzugt auf ganz bestimmt Reize, nicht einfach nurauf Helligkeit. Wenn man zum Beispiel mit einer Lampe insAuge strahlt, ist die Aktivität im Sehzentrum nicht sehrgroß. Nur die wenigsten Neuronen reagieren mit einemImpuls. Stattdessen feuern sie bevorzugt, wenn es Kontraste zu sehen gibt, oder eine Kante mit einem Übergangvon hell zu dunkel. So sind sie ganz besonders aktiv, wenndas Auge ein schwarz-weißes Karomuster sieht.schritte gleichzeitig ablaufen und in dem die unterschiedlichen Bereiche pausenlos miteinander Informationen austauschen. Dennoch lassen sich zwei grundlegendeVerarbeitungswege unterscheiden. Zum einen gibt es denWas-Pfad, zum anderen den Wo-Pfad. Sie führen in verschiedene Gehirnbereiche.Der Wo-Pfad: PositionIm Wo-Pfad (hauptsächlich im Scheitellappen oder auchParietallappen genannt) wird unter anderem analysiert,wo genau die Objekte sind, wie groß sie sind und in welchem Abstand sie sich zueinander befinden. Die genaueForm und Art der Objekte wird dabei kaum beachtet.Die dritte DimensionWo sind die Objekte?Auch die dreidimensionale Wahrnehmung ist wichtig, einbenachbarter Gehirnbereich ist dafür verantwortlich:Welche Tiefe haben die Objekte und wie weit sind sie vomBetrachter entfernt? Ohne diesen Aspekt würden die gesehenen Gegenstände flach wie aus Pappe ausgeschnitten wirken.BewegungErst durch Perspektive und Tiefeentsteht eine dreidimensionaleGehirnzellen arbeiten in NetzwerkenDie zwei wichtigsten Verarbeitungswege: Der Wo-Pfad führtnach oben in den Parietallappen,der Was-Pfad eher nach unten undvorne, zum TemporallappenDie primäre Sehrinde nimmt aber nicht nur die Konturenwahr, sondern arbeitet auch als eine Art Verteiler für diehöheren Hirnregionen, die das Bild nach verschiedenenInhalten analysieren. Für unterschiedliche Aspekte desBildes, gibt es teilweise spezialisierte Gebiete. Das betrifftzum Beispiel die Frage, welche Objekte es sind und wo siesich befinden. Doch diese spezialisierten Areale sind nichtstreng gegeneinander abgegrenzt. Unser Gehirn ist vielmehrein kompliziertes Netzwerk in dem unzählige Verarbeitungs-4Andere Nervenzellen sind darauf spezialisiert, Bewegungen wahrzunehmen. Dabei reagieren unterschiedlicheNeuronen auf jeweils ganz bestimmte Geschwindigkeiten.Wo die Bewegung stattfindet spielt hier kaum eine Rolle.Der Was-Pfad: ObjekterkennungDer Was-Pfad (hauptsächlich im Schläfenlappen oderTemporallappen) klärt, was für Gegenstände, Personenoder Landschaften das Auge da sieht. Damit das Gehirndie Objekte einordnen kann, muss es sie zunächst von5Wahrnehmung

00 Q Skript Wahrn innen.qxd 09.08.2005 14:15Uhr Seite 6Blind für Veränderungen –Aufmerksamkeit und WahrnehmungWie wirklich ist die Wirklichkeit?Objekte werden mit bekanntenDingen aus dem visuellenGedächtnis verglichenihrem Hintergrund trennen. Dabei ist es günstig, dassbereits die primäre Sehrinde besonders gut auf Kantenund Übergänge anspricht. So lassen sich die Konturen derObjekte schnell erfassen. Diese Konturenwahrnehmungfunktioniert so gut, dass das Gehirn teilweise über das Zielhinausschießt und Formen sieht, die es eigentlich garnicht gibt. Gleichzeitig vergleicht das Gehirn die gefundenen Strukturen mit gespeicherten Bildern aus seinemLangzeitgedächtnis. Wurde ein Gegenstand schon einmalgesehen, reichen schon wenige Hinweise, damit es ihnwieder erkennt. Bei einem neuen Objekt müssen dagegenmehr Einzelheiten entschlüsselt werden und der Erkennungsprozess dauert länger.FarbeWie realistisch ist unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit?Normalerweise gehen wir davon aus, dass wir ein rechtrealistisches Bild haben und zum Beispiel unsere Umgebung wie auf einem hochaufgelösten Panoramafoto inallen Einzelheiten sehen. Doch das ist ein Trugschluss. Wirnehmen nur winzige, vage Ausschnitte wahr und sinddarüber hinaus rund ein Viertel der wachen Zeit blind.Denn wenn wir blinzeln oder sich unsere Augen von einemPunkt zu einem anderen bewegen können wir nichtssehen. Die wenigen Informationen die unserem Gehirn zuVerfügung stehen werden allerdings so geschickt kombiniert und aus der Erfahrung ergänzt, dass wir die Illusionhaben, ständig eine komplette Welt zu sehen. Passiertetwas Ungewöhnliches oder – im wahrsten Sinne desWortes – Unvorhergesehenes kann es sein, dass wir dasEreignis nicht wahrnehmen, obwohl es vor unseren Augenstattfindet.Welchen Passanten fällt auf,dass wir während desGespräches den Reporter austauschen?In einer weiteren Gehirnregion reagieren die Neuronenhauptsächlich auf die Farben.Das Quarks-ExperimentEin Rätsel bleibt: wie kommt alles zusammen?Unser Gehirn kann mehrereTausend Farben unterscheidenWie setzen sich die Puzzleteilezusammen?Innerhalb von rund einer viertel Sekunde hat das Gehirnalle relevanten Informationen über das Was und Wo ausdem Bild gewonnen. Bis heute ist allerdings nichtbekannt, wie es diese verschiedenen Aspekte zu einemGesamteindruck kombiniert. Klar ist nur, dass im Gehirnkein hierarchisches System herrscht, bei dem es eine Artoberstes Meldezentrum gibt. Stattdessen tauschen dieverschiedenen Regionen als Netzwerk ständig Informationen aus. Offenbar werden sogar von den höherenVerarbeitungsebenen wieder Impulse in die primäre Sehrinde zurück geschickt. Sie wirken wie eine Verstärkungoder Rückkopplung und machen die bewusste Wahrnehmung wahrscheinlich erst möglich.6Wir haben vor dem Kölner Dom ein einfaches Experimentmit versteckter Kamera gemacht. Unser Lockvogel war alswdr-Reporter getarnt, der eine Straßenumfrage macht. Erzeigte Passanten ein Foto mit einer optischen Täuschungund forderte sie auf, es in die Hand zu nehmen und zukommentieren. Während des Gesprächs drängelten sichplötzlich zwei Helfer mit einem Paket zwischen Reporterund Passant hindurch. So war der Versuchsperson derBlick auf den Reporter kurz verstellt. Während dieser Zeittauschten wir den Reporter gegen einen Kollegen aus. Derführte das Interview weiter. Überraschenderweise hatweniger als die Hälfte der Probanden bemerkt, dass siesich mit zwei unterschiedlichen Personen unterhaltenhaben. Selbst als wir einen Mann gegen eine Frau austauschten, zeigten einige keine Reaktion.7Eine Sichtblende verdecktkurzzeitig den Austausch desReporters

00 Q Skript Wahrn innen.qxd 09.08.2005 14:15Uhr Seite 8Optische TäuschungenIm Interview liegt dieAufmerksamkeit der Passantenauf dem Foto mit den optischenTäuschungenWohin geht der Blick?Komplementäres NachbildDie meisten Versuchspersonen, denen etwas aufgefallenist, haben die Veränderung zunächst nicht gesehen, sondern gehört. Sie haben die andere Stimme erkannt Mankönnte daraus schließen, dass sie sich den Reporter einfach nicht richtig angesehen haben. Doch so einfach ist esnicht. Wahrnehmungsforscher der Technischen UniversitätDresden beschäftigen sich mit diesem Phänomen derBlindheit für Veränderung, auch „Change Blindness“genannt. Für uns haben sie das Interview aus Sicht derPassanten analysiert: Wohin blicken sie während desGesprächs? Ergebnis: Die größte Aufmerksamkeit widmendie Passanten dem Foto mit der optischen Täuschung.Trotzdem blicken sie dem Reporter sowohl vor als auchnach dem Personentausch mindestens einmal mitten insGesicht. Sie haben die Veränderung vor Augen, sehen sieaber trotzdem nicht.Schauen Sie 20 Sekunden lang auf das Kreuz in der Mitte der vier roten Rechtecke.Anschließend blicken Sie auf das Kreuz rechts daneben.Statt der roten Rechtecke scheinen – leicht verschwommen – vier grüne Rechtecke um das Kreuz angeordnet zu sein. Tatsächlich ist die Fläche jedoch weiß. Der Grund: Die roten Flächen haben die Sehzellen imAuge überreizt. Verschwindet die rote Farbe aber, reagieren sie sogar weniger als sie es normalerweise beiWeiß tun würden. Dieses „fehlende“ Signal interpretiert unser Gehirn dann als Komplementärfarbe. Im Fallevon Rot ist das Grün. Nach kurzer Zeit erholen sich die „rotempfindlichen“ Sehzellen und reagieren wiederDas Gehirn ist überfordertnormal, die Täuschung verblasst. Das ganze funktioniert nicht nur mit Farben sondern auch mit hellen unddunklen Flächen.Wieso es zu diesem Phänomen der Blindheit für Veränderung kommt, ist bis heute nicht ganz geklärt. Sicher istnur, es hat etwas mit der eingeschränkten Kapazität unseres Gehirns zu tun. Wollten wir alle visuellen Reize, dieunser Auge erreichen, gleichzeitig erfassen, wäre unserGehirn hoffnungslos überfordert und müsste vermutlichmehrere Tonnen wiegen. Es trifft stattdessen immer einekleine Auswahl. Im Grunde genommen nehmen wir nur dieObjekte bewusst wahr, auf die wir unsere Aufmerksamkeitrichten. Für die anderen Dinge gibt es darüber hinausoffenbar nicht einmal ein visuelles Kurzzeitgedächtnis.Auch dies würde zuviel Gehirnleistung fordern. Stattdessen ist die Welt unser visueller Speicher. Wollen wirwissen wo ein Objekt ist, oder wie es genau aussiehtschauen wir einfach hin. Im Normalfall ändert sich dieWelt ja nicht von einem Wimpernschlag zum anderen. Tutsie es doch – so wie in unserem Experiment – dann nehmen wir es einfach nicht wahr.Hermann-GitterAchten Sie auf die Kreuzungspunkte. Sind sie weiß oder schwarz?In den weißen Kreisen an den Kreuzungen tauchen schwarze Punkte auf. Nur der weiße Kreis,den man fixiert, bleibt vollständig weiß. Die gängige Erklärung zu dieser Täuschung ist, dass dieÜbergänge zwischen hell und dunkel auf so kleinem Raum stattfinden und der Kontrast so starkist, dass die Nervenzellen im Gehirn überfordertsind. Sie hemmen sich gegenseitig, so dass eszu einer falschen Helligkeitszuordnung kommt.Leider ist diese Erklärung nicht ganz schlüssig.Zum einen ist der Effekt relativ unabhängig vonder Größe der Punkte und Quadrate. Um sichgegenseitig beeinflussen zu können, dürfen diedazu gehörigen Nervenzellen jedoch nicht weitauseinander liegen.89

00 Q Skript Wahrn innen.qxd 09.08.2005 14:15Uhr Seite 10Der Effekt sollte bei einem grob-Titchener Kreistäuschungmaschigen Gitter verschwinden – daspassiert jedoch nicht. Zum anderenBetrachten Sie die beiden roten Kreise in der Mitte. Sind beide gleich groß?sollte nach der gängigen Erklärungdie Täuschung auch auftreten wenndas kontrastreiche Muster nichtstreng quadratisch angeordnet ist,wie im nebenstehenden Bild. Dochdabei tritt die Täuschung meistensnicht ein.Obwohl der linke Kreis, der von den großen Kreisen umgeben ist, kleiner wirkt, sind beide Kreise in der Mittegleich groß. Offenbar sind wir nicht in der Lage ein Objekt unabhängig von seiner Umgebung wahrzuneh-Müller-Lyer-Täuschungmen. Die großen Figuren lassen des Kreis in der Mitte schrumpfen, kleine Figuren lassen ihn dagegengrößer erscheinen.Schauen Sie sich die beiden Linien an. Welche davon ist länger?Neue Forschungsergebnisse zeigen jedoch einen überraschenden Effekt: Lässt man Versuchspersonen mitWahrscheinlich haben Sie die untereden Fingern nach den mittleren Kreisen greifen, öffnen sich die Finger gleich weit. Die Information, dassLinie mit den geschlossenen Pfeil-beide Kreise gleich groß sind, scheint daher in unserem Gehirn vorhanden zu sein, allerdings ist sie unsspitzen kürzer eingeschätzt als die mitnicht bewusst.den offenen. Wahrscheinlich reichenunserem Gehirn bereits die unterschiedlichen Pfeilspitzen um die Zeichnung als eine dreidimensionale SzenePoggendorff Täuschungzu interpretieren. Die Linie mit den geschlossenen Pfeilspitzen erinnert anWelche der beiden Geraden auf der rechte Seite verlängert die linke Gerade?die vordere Kante eines Objektes; z. B.einer Häuserecke. Die andere wirktDie meisten Mensch entscheiden sich für die untere Gerade. Docheher wie die hintere Innenkante, z. B.tatsächlich ist es die obere, die auf einer Linie mit der linken Geradeneines Raumes. Entsprechend des soliegt. (Sie können das leicht mit einem Stift oder einem Lineal über-genannten „Gesetzes der Größen-prüfen.)konstanz“ nimmt unser Gehirn an,dass entfernte Objekte in WirklichkeitEine mögliche Erklärung ist, dass unser Gehirn spitze Winkel offenergrößer sind als sie nach dem Abbildeinschätzt als sie tatsächlich sind. Die Gerade wird daher falsch ver-auf der Netzhaut erscheinen. Die Linielängert und wir erwarten den Durchstoßpunkt an einer tieferenmit den offenen Pfeilspitzen wirdStelle.offenbar als weiter weg und damitletztendlich als größer interpretiert.1011

00 Q Skript Wahrn innen.qxd 09.08.2005 14:15Uhr Seite 12Welt in Scherben –neurologische WahrnehmungsstörungenKanizsas DreieckZerbrechliche WirklichkeitSchauen Sie sich die geometrische Zeichnung an. Wie viele Dreiecke sehen Sie?Dass jeder Mensch die Welt mit eigenen Augen sieht, isteine Binsenweisheit. Und trotzdem: Bei allen subjektivenWahrnehmungs-Unterschieden glauben wir, dass dieWirklichkeit mit ihren Strukturen von Raum oder Zeitunveränderlich ist und für alle gilt. Zu unrecht. Denn das,was wir als Wirklichkeit zu kennen glauben, ist ein Produkt unseres Gehirns. Nur vergleichsweise winzige Teiledes Hirns müssen zerstört werden, damit die Wirklichkeiteine ganz andere wird.Wie zerbrechlich die "normale"Wirklichkeit ist, zeigt sich anneurologischenLeben in einer halben WeltWahrscheinlich sehen Sie zwei Dreiecke: ein schwarz umrandetes und ein weißes Dreieck, das darüber liegt.Doch streng genommen hat das weiße Dreieck gar keine Konturen. Auf einer frühen Verarbeitungsstufe reagiert unser Gehirn allerdings bereits auf angedeutete Konturen und setzt diese dann nach dem so genannten„Gesetz der guten Fortführung“ zusammen. Das bedeutet: die einfachste bzw. bekannteste Figur, die passendsein könnte, wird entsprechend ergänzt. Unter Umständen sehen wir dadurch Objekte, die in Wirklichkeit garnicht vorhanden sind.WahrnehmungsstörungenOft geschieht es nach einem Schlaganfall: Menschen, diebis dahin ein normales Leben geführt haben, verhaltensich plötzlich merkwürdig. Alles, was auf der einen Seitedes Raumes geschieht, scheint für sie nicht mehr zu existieren. Das betrifft Teile des eigenen Körpers, aber auchGegenstände und Personen. Sinnesreize kommen aber an– Töne, Bilder, auch Berührungen registriert das Gehirn.Aber sie werden den Patienten nicht mehr, oder nur nochschwach, bewusst. „Räumliches Neglect“ nennt man dieses neurologische Syndrom.KippbilderIm unteren Scheitellappen(Lobus parietalis), einem Teil derHirnrinde, sitzt der so genannte Journal of Psychology 42 (1930)Was zeigt diese Zeichnung? Eine junge Frau oder eine alte Dame?Das Bild „Meine Frau und meine Schwiegermutter“ zeigt tatsächlich zwei Gesichter gleichzeitig. Die junge Frau hat dasGesicht von uns abgewandt. In der Mitte des Bildes sehen wirihr Ohr, links davon auf gleicher Höhe sind die Augenlider unddie Nase angedeutet. Das Ohr der jungen Frau ist gleichzeitigdas Auge der alten Dame. Deren Kopf ist insgesamt größer. Sieschaut nach links und hat den Kopf ein wenig gesenkt.Nach einer Weile kann man beide Gesichter ohne Probleme entdecken. Allerdings können wir entweder nur das eine oder dasandere sehen. Unsere Wahrnehmung „kippt“ ständig hin und her. Auch mit viel Übung gelingt es nicht, beideDer Ausfall betrifft eine ganze Körperseite: es ist die, dievon der beschädigten Hirnhälfte gesteuert wird. Nebendem Hirnschlag können auch andere Verletzungen für dasNeglect-Syndrom verantwortlich sein. Eine zentrale Rollescheint aber ein Gehirnbereich im unteren Scheitellappenzu spielen, der sogenannte Gyrus angularis, er ist besonders wichtig für die Raumwahrnehmung. Erstaunlichdabei: die Patienten selbst wissen nicht, dass ihnen einTeil der Welt fehlt, es ist vor allem die Umwelt, die dasveränderte Verhalten registriert – wenn die Patienten sichnur die eine Hälfte ihres Gesichts rasieren oder schminken, wenn sie nur einen Teil ihres Tellers leer essen oderwenn sie nahe Angehörige, die sich auf der falschen Seitebefinden, schlicht ignorieren.Bilder gleichzeitig zu sehen. Der Grund: In unserem Gehirn gibt es einen Alles-oder-Nichts-Effekt. Dabeisetzt sich immer ein Reiz oder eine Interpretation durch und unterdrückt alle anderen, selbst wenn siemöglich sind. Welche Interpretation sich durchsetzt, kann aber immer wieder wechseln.1213Gyrus angularis. Er spielt einegroße Rolle bei der Raumwahrnehmung

00 Q Skript Wahrn innen.qxd 09.08.2005 14:15Uhr Seite 14Räume als zersplittertes BildPatienten mit Balint-Syndromleiden an einer schwerenStörung der räumlichenWahrnehmung. Es gibtBeschreibungen von Patienten,nach denen die Wirklichkeit alsmehrfach gebrochenes oderzersplittertes Bild erlebt wirdDer deutsche Arzt Rudolph Balint war es, der zu Beginndes 20. Jahrhunderts zum ersten Mal eine merkwürdigeKrankheit beschrieb: Die Patienten hatten zwar eine normale Sehschärfe und ein weitgehend intaktes Gesichtsfeld, trotzdem bewegten sie sich wie Blinde im Raum –unfähig, sich zu orientieren oder einfachsten Vorgängenzu folgen. Heute gilt das sogenannte Balint-Syndrom alsseltene, aber schwere neurologische Erkrankung, die nachsehr unterschiedlichen Hirnverletzungen auftritt. Gemeinsam ist den Betroffenen eine massive Störung der visuellen Aufmerksamkeit und der Wahrnehmung des Raumes.Entfernungen oder Größenverhältnisse abzuschätzen,etwa die Tiefe von Treppenstufen, ist für sie fast unmöglich. Patienten mit Balint-Syndrom haben dazu größteProbleme, mehr als einen Gegenstand im Blick zu behalten. Einem komplexeren Vorgang zu folgen, zum Beispieleiner Unterhaltung, ist für sie fast unmöglich. Aber aucheinzelne Gegenstände oder Personen konzentriert anzuschauen, ist schwierig. Manche Betroffene beschreibenihre neue Wirklichkeit als zersplittertes oder mehrfach zerbrochenes Bild. Bis heute wissen die Hirnforscher nichtgenau, wo im Gehirn die Störung ihre Ursache hat. Sicherscheint nur, dass bei allen Patienten im hinteren Bereichdes Gehirns Schaden entstanden ist, oft als Folge einesSchlaganfalls oder einer Hirnblutung. Dieser Teil derHirnrinde wird mit der visuellen Vorstellungskraft inZusammenhang gebracht.Straße überqueren wollte, geriet sie in Lebensgefahr,denn sie war nicht in der Lage, Bewegungsrichtungen oderGeschwindigkeitsunterschiede wahrzunehmen. Mit stillstehenden Gegenständen hatte sie keine Probleme, dochje schneller sich etwas bewegte, desto mehr verflüchtigten sich für sie die Dinge. Kleine Hunde beispielsweiseschienen für sie in der Luft zu schweben: die Bewegungder Beine war so schnell, dass sie für die Patientin schlichtnicht mehr existierten. Diese totale Unfähigkeit, Objektein Bewegung zu sehen, wurde erst ein einziges Mal diagnostiziert. Sie tritt nur dann auf, wenn das für das Bewegungs-Sehen zuständige Hirnareal MT/V5 im unterenScheitellappen auf beiden Seiten des Gehirns zerstört ist.Ist nur eins von beiden Arealen zerstört, ist das Sehen vonBewegung immer noch, wenn auch mit Einschränkungen,möglich.Nur drei Beispiele aus einer fast unübersehbaren Zahl vonSyndromen und Krankheiten, bei denen Hirnschäden zueiner gestörten Wahrnehmung führen – alle zeigen, dassdie normale Wahrnehmung alles andere als selbstverständlich ist: Unsere Wirklichkeit beruht auf einem prekären Gleichgewicht der Neuronen.Wenn die Welt stillstehtDieser Fall war eine wissenschaftliche Sensation. Im Jahr1983 berichtete der Münchner Neurologe Josef Zihl voneiner 43-jährigen Frau, die nach einer Gefäßverengung imGehirn keine bewegten Objekte mehr wahrnehmen konnte. Goss sie eine Tasse Tee ein, erschien ihr der Strahl ausder Kanne als fest gefrorene Masse. Sie konnte daher auchnicht abschätzen, wann die Tasse voll war – sie schütteteweiter, bis der Tee über den Tisch lief. Wenn sie eine1415Das MT/V5-Areal im unterenScheitellappen ist verantwortlich für die Verarbeitung visueller Bewegung

00 Q Skript Wahrn innen.qxd 09.08.2005 14:15Uhr Seite 16Vermischte Sinne: Bunte Töneschmecken süßHirnforscher können mittlerweiledem Gehirn beim Arbeiten zusehen – so hoffen sie auch auf tiefeEinblicke bei Menschen mitSynästhesieUngewöhnlicher Fall in ZürichWenn kleine Sexten sahnig schmeckenMusik hören – das ist für die meisten Menschen alltäglich.Wie es sich aber anfühlt, wenn man Musik nicht nur hört,sondern sie auch sieht oder sogar schmeckt, das könnensich Normalsterbliche nur mit Mühe vorstellen. Und dochgibt es solche Menschen: Synästhesie ist der Fachbegrifffür das Phänomen. Schätzungsweise einer von 2.000Menschen hat diese Fähigkeit. Am häufigsten ist dieVerkoppelung von zwei Sinnen, zum Beispiel das Sehenvon Farben, wenn man Musik hört. Doch der Neuropsychologe Lutz Jäncke von der Universität Zürich hatAnfang des Jahres 2005 einen Aufsehen erregenden Fallbeobachtet: Bei der 27-jährigen Musikerin Elisabeth S.sind gleich drei Sinne miteinander gekoppelt – ein extremseltener Fall.Allgemein gesprochen handelt es sich bei der Synästhesieum eine Vermischung der Sinne. Kommt ein bestimmterSinnesreiz im Gehirn an – ein Ton, ein Duft oder visuellerEindruck – dann reagiert das Gehirn gleichzeitig mit einerweiteren Sinneswahrnehmung. Bekannt ist das Phänomenseit Jahrhunderten, erforscht wird es allerdings erst seitwenigen Jahren. Die Wissenschaftler erhoffen sich,dadurch nicht nur bizarren Sinnesvermischungen auf dieSpur zu kommen, sondern Grundsätzliches über dieMechanismen der Wahrnehmung zu erfahren. Kurz gesagtgeht es um die Frage: Wie verbinden sich im Gehirn verstreute Neuronensignale zu einer einzigen Wahrnehmung? Denn wie im Gehirn aus der Flut von Nervenreizen,die es durch die Sinne empfängt, eine einheitlicheWahrnehmungen entsteht, weiß man erst in Ansätzen.Einige Takte aus einem Larghettovon Vivaldi, gemalt von derSynästhetin Elisabeth S. Farben undFormen entsprechen bei ihr Tonartenund Klangfarben: Streicher sind geschwungene Linien, Zupfinstrumente Kreise und PunkteMusik für den GaumenSynästhesie: ein Rätsel für die WissenschaftEine kleine Terz schmeckt nachZucker, eine kleine Sexte nachSahne: dass diese Verbindungenbei Elisabeth S. konstant sind,ergaben psychologische Tests derUniversität ZürichWenn die junge Flötistin Elisabeth S. Musik hört, sieht siedazu Farben, und mehr noch: sie kann die Töne sogarschmecken! Quinten schmecken nach Wasser, eine Terznach Zucker, eine kleine Sexte nach Sahne. Diese spezielleSynästhesie prägt auch ihre eigenen Musikvorlieben –zeitgenössische Popmusik ist für sie überwiegend ungenießbar: zu viele Dissonanzen. Durch ihre ungewöhnlicheSynästhesie ist sie ihren Musiker-Kollegen gegenüber imVorteil: sie kann Tonarten und Intervalle schneller erkennen. Besonders schnell ist sie, wenn die gehörten Intervalle mit ihren entsprechenden Geschmackswahrnehmungen übereinstimmen. Das zeigte ein Experiment an derUniversität Zürich, bei dem die Wissenschaftler der Musikerin zu einem vorgespielten Intervall einen Geschmacksreiz anboten. Und die Tests zeigten auch: auch nachMonaten blieben ihre Intervall-Geschmacks-Zuordnungenidentisch.16Auch bei den synästhetischen Wahrnehmungen tappt dieWissenschaft noch weitgehend im Dunklen. Doch es gibteine Reihe von Erklärungsversuchen. Der HannoveranerSynästhesie-Experte Hinderk Emrich geht davon aus, dassdie synästhetische Verkopplung in einem entwicklungsgeschichtlich eher ursprünglichen Teil des Gehirns geschieht, im so genannten limbischen System. Es steuertGefühle, und nach Emrichs Theorie schaltet es sich zwischen zwei Hirnareale, in denen verschiedene Sinneseindrücke verarbeitet werden – er nennt das Phänomendie „limbische Brücke“.Lutz Jäncke und seine Mitarbeiterwollen dem Geheimnis derSynästhesie mit einem neuenVerfahren auf die Spur kommen:Eine andere Hypothese verfolgt Lutz Jäncke von derUniversität Zürich. Er glaubt, dass die Nerven-Verbindungzwischen Hirnregionen eine Rolle spielt, die normalerweise für die einzelnen Sinnesreize zuständig sind. In Zürichsollen Verbindungen zwischen dem für Geschmackswahrnehmungen zuständigen Areal im vorderen Hirnbereichund dem Gehörzentrum im Schläfenlappen untersucht17Diffusion Tensor Imaging (DTI), einerVariante der Magnetresonanztomographie

00 Q Skript Wahrn innen.qxd 09.08.2005 14:15Uhr Seite 18Gespür für Gefahr:Sinne bei TierenEin sechster Sinn für Erdbeben?werden. Jäncke will herausfinden, ob diese verschiedenenBereiche bei Synästhetikern möglicherweise stärker vernetzt sind als bei anderen Menschen. Mit Hilfe des DTIVerfahren (Diffusion Tensor Imaging) könnte es möglichsein, solche Verbindungsstrukturen zwischen verschiedenen Gehirnarealen nachzuweisen.Auf der Spur der NervenkabelSind bei SynästhetikernHirnareale stärker mit einanderverkabelt als bei normalenMenschen – oder nutzen sie dievorhandenen Verbindungswegenur besser? Die Antwort aufdiese Frage steht noch ausBei DTI handelt es sich um eine Variante der Magnetresonanztomographie. Mit dem neuen Verfahren hofft man,speziell den Nerven-Vernetzungen des Gehirns auf dieSpur zu kommen. Denn mit DTI können die Hirnforscherdie Ausbreitungseigenschaften von Wassermolekülen imHirngewebe messen – und dadurch den Verlauf vonNervenfasern verfolgen: innerhalb einer Nervenfaser bewegen sich die Wassermoleküle nämlich in einer bestimmten Richtung, während sie sich im umliegenden Hirngewebe nach allen Seiten frei ausbreiten können. DieserUnterschied schlägt sich in unterschiedlichen magnetischen Signalen nieder, die die Moleküle aussenden. DieWissenschaftler hoffen mit Hilfe dieser Methode herauszufinden, welche Hirnregionen bei Synästhetikern normalerweise über eine direkte Verbindung kommunizieren undwelche nur über ein gemeinsam angesteuertes drittesAreal miteinander verbunden sind. Die DTI-Messungendes Instituts für Neuropsychologie der Universität Zürichhaben begonnen, eine genaue Analyse der ersten Datensteht noch aus.Alles scheint normal und friedlich, aber die Tiere spielenplötzlich verrückt: Hunde bellen, Ratten rennen aus denHäusern und Schlangen kriechen aus ihren Erdhöhlen.Dann, wenige Stunden später: ein Erdbeben. Menschenaus verschiedenen Epochen und Kulturen erzählen vondiesem Phänomen, einem seltsamen Verhalten der Tierevor einem Erdbeben. Aber können Tiere ein nahendes Beben wirklich fühlen, riechen oder vielleicht sehen? Habensie möglicherweise einen sechsten Sinn, der sie warnt?Und sollte man solchen Berichten überhaupt glauben?ein Beben naht? Seit Jahrhundertengibt es Berichte, dass die verschiedensten Tiere vor Erdbeben verrücktWissenschaftler sind skeptischspielenViele Tiere haben Sinne, die den Menschen fehlen –Fledermäuse orientieren sich mit Hilfe von Ultraschall,und einigen Schlangen verrät ein spezielles InfrarotOrgan, wo sich Beutetiere verstecken. Andere Sinne sindbei vielen Tieren besser entwickelt als beim Menschen,zum Beispiel der Geruchssinn bei Hunden. Doch welcherSinn den Tieren ein nahendes Erdbeben verraten soll, istschwierig herauszufinden. Forscher wissen bis heutewenig darüber, was sich Tage oder Wochen vor einemBeben im Boden abspielt – jedes Beben scheint anders zuverlaufen. Große Testreihen zu einem möglichen Erdbebensinn von Tieren lassen sich kaum durchführen, daschwere Beben zu selten sind. Auch die Berichte von Laienüber ungewöhnliches Tierverhalten liefern den Wissenschaftlern keine sicheren Daten. Wie welche Tiere wannreagiert haben, oder ob den Beobachter nur seineErinnerung täuscht, lässt sich daraus kaum entnehmen.Die Flucht vor der RiesenwelleManchmal können Wissenschaftler einen angeblichensechsten Sinn der Tiere aber auch erklären. Zum Beispielbeim Seebeben vor Sumatra im Dezember 2004. Damals18Verrät ihre Nase den Schweinen, ob19

00 Q Skript Wahrn innen.qxd 09.08.2005 14:15Uhr Seite 20Haben Fische und Tauben ein Frühwarnsystem?Nach einem Seebeben breitensich die Erdbebenwellen imBoden (gelb) wesendlich schneller aus als die Wasserwellesind viele Tiere der riesigen Flutwelle – dem Tsunami – entkommen. Das berichten zum Beispiel Naturschutzbehörden aus Sri Lanka. Um den Tsunami vorauszusehen,brauchten die Tiere aber keine geheimnisvollen Fähigkeiten, sondern nur einen feinen Sinn für Erschütterungen.Bei einem Seebeben breiten sich die Erschütterungen imBoden viel schneller aus als im Wasser. In Sri Lanka kamschon zwei Stunden vor der Wasserwelle eine Bodenwellean. Viele Tiere sind für solche Erschütterungen sehr empfindlich, zum Beispiel bodenlebende Reptilien oder auchElefanten. Deshalb konnten sie möglicherweise schon vorder Ankunft des Tsunamis das Beben wahrnehmen undsic

Täuschungen 9 Optische Täuschungen Komplementäres Nachbild Schauen Sie 20 Sekunden lang auf das Kreuz in der Mitte der vier roten Rechtecke. Anschließend blicken Sie auf das Kreuz rechts daneben.