Transcription

Unverkäufliche LeseprobeAlle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Textund Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftlicheZustimmung des Verlags urheberrechtswidrig undstrafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung,Übersetzung oder die Verwendung in elektronischenSystemen.

JUDITH HERMANNDAHEIMROMANS. FISCHER

Aus Verantwortung für die Umwelt hat sich der S. Fischer Verlagzu einer nachhaltigen Buchproduktion verpflichtet. Der bewussteUmgang mit unseren Ressourcen, der Schutz unseres Klimas undder Natur gehören zu unseren obersten Unternehmenszielen.Gemeinsam mit unseren Partnern und Lieferanten setzen wir uns füreine klimaneutrale Buchproduktion ein, die den Erwerb von Klimazertifikaten zur Kompensation des CO2-Ausstoßes einschließt.Weitere Informationen finden Sie schienen bei S. FISCHER 2021 S. Fischer Verlag GmbH,Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am MainSatz: Dörlemann Satz, LemfördeDruck und Bindung: CPI books GmbH, LeckPrinted in GermanyISBN 978 -3 -10 -397035-7

Damals, in diesem Sommer vor fast dreißig Jahren, wohnte ich im Westen und weit weg vom Wasser. Ich hatteeine Einraumwohnung im Neubaugebiet einer mittlerenStadt und Arbeit in der Zigarettenfabrik. Die Arbeit warsimpel, ich musste darauf achten, dass der Tabakstrangganz gerade in den Zerteiler lief, das war alles; eigentlichmachte das die Maschine, sie hatte einen Sensor, an demder Strang vorbeischnurrte, und wenn er nicht gerade lag,hielt sie an. (Sie hielt an wie jemand, der gegen die Wandläuft, sie stoppte mit einem entsetzlichen Ruck.) DieserSensor funktionierte häufig nicht, deshalb stand ich neben der Maschine und beobachtete den Strang, rückteihn gerade, wenn er in die Schieflage kam. Von siebenbis zwölf, eine halbe Stunde Mittagspause und noch maldrei Stunden weiter. Ich sah ziemlich oft weg. Ich sah zumZerteiler rüber, in dem der Strang in einzelne Zigarettengeschnitten wurde, aus dem Tausende von Zigaretten her ausfielen, all diese Zigaretten, die die Menschen draußen in der Stadt rauchen würden. Vor der Arbeit. In derPause. Nach dem Essen. Während des Streitens. Währendder Liebe und nach der Liebe.Rauch.7

Die Arbeit in der Zigarettenfabrik war in Ordnung. Ichhielt mich aus den Zusammenhängen raus, oder anders –ich steigerte mich nicht in die Zusammenhänge hinein.Ich trug Ohrenstöpsel, die anderen Fabrikarbeiterinnentrugen keine, sie bestanden tatsächlich darauf, inmittendes Höllenlärms in dieser Halle miteinander zu reden, ichkonnte sie wegen meiner Ohrenstöpsel nicht verstehen,aber ich konnte zusehen, wie sie sich anschrien. Ihre Gesichter waren gerötet und glänzend, die Sehnen am Halstraten kräftig und schön hervor. Sie gestikulierten, siehatten präzise, knappe Gesten für Ficken und Scheitern,Zorn, für das Ende von etwas, für den Triumph. Sie lachten viel und deuteten aufeinander, schlugen sich auf dieSchenkel vor Lachen und wischten sich die Tränen mitden Handrücken ab. Die meisten von ihnen waren ziemlich hübsch, trotz der unförmigen Kittel, der Hauben ausfusseliger Gaze, trotz der Hitze in der Halle, die uns allezu erledigten Geschöpfen machte.In der Mittagspause musstest du Mahlzeit sagen. Mahlzeit, im Fahrstuhl, im Gang, in der Kantine, in derSchlange an der Essensausgabe. Ich wollte nur ungerneMahlzeit sagen, irgendwann fiel das auf, und sie bestellten mich in das Büro des Schichtleiters.Der Schichtleiter saß hinter seinem Schreibtisch, errollte mit dem Stuhl vor und zurück und sah mich vonoben nach unten an, was er da sah, interessierte ihn nichtbesonders. Er nickte, als hätte er irgendetwas sowiesound schon immer gewusst, er gähnte gelangweilt.Er sagte gähnend, also der Mittagsgruß gehört hier dazu.8

Ich sagte, ich verstehe nicht, wovon Sie reden.Er sagte, Sie verstehen das ganz genau.Natürlich verstand ich das. Ich hatte nicht vor, in dieser Fabrik zu bleiben, mein Leben da zu verbringen, ichkonnte das Wort Mahlzeit schlicht nicht ausstehen.Er sagte, pass mal auf, es ist ganz einfach. Wenn dunicht in der Lage bist, Mahlzeit zu sagen, fliegst du raus.Es ging nicht um das Wort, es ging um die Regeln undum die Macht. Ich dachte einen Moment über das plötzliche Du nach, über die Temperatur, die in seinem Büroherrschte, dem Raum, in dem er seine Zeit totschlug; wirstarrten einander an.Dann ließ er mich gehen.Abends saß ich oft auf meinem Balkon im fünften Stock.Einer der Vormieter hatte seine Blumenkästen dagelassen,in den Kästen wuchsen Pflanzen, die ich nie zuvor gesehen hatte. Zarte grüne Stengel mit weißen Blüten, großwie Streichholzköpfchen, ich goss sie niemals, trotzdemwaren sie da. Auf dem Boden lag Kunstrasen, es gab einen Klapptisch und einen einzigen Stuhl, und der Blickging auf die Ausfallstraße und die Tankstelle raus.Ich mochte diesen Blick sehr.Die blaue Leuchtreklame der Tankstelle, die anfahrenden, abfahrenden Autos, die Ständer mit traurigen Sträußen in Folien, die Säcke Grillkohle vor der Tür. Wie dieLeute aus ihren Autos stiegen, tankten, träumten, während sie zusahen, wie die digitalen Ziffern auf den Zapfsäulen durcheinanderratterten, wie sie reingingen und inden Zeitungen blätterten, Biere kauften, Schokolade und9

Minzbonbons. Ich stellte mir vor, dass alle diese Leuteauf eine lange Fahrt gingen, volltankten, wirklich weitweg wollten, Leute auf der Durchreise, frag sie nach demWeg und sie heben die Schultern und sagen, oh, ich binnicht von hier, ich kenne mich auch nicht aus. Tut mirleid.Ich saß auf dem Balkon auf dem einzigen Stuhl, hattedie Füße auf dem Tisch und rauchte die Zigaretten ausder Fabrik, schnickte die Asche über die Brüstung und ließdie Kippe in eine Coladose fallen, damals rauchte ich viel.In diesem Sommer war es sehr heiß, und ich saß in Unterwäsche draußen, bis es spät und endlich dunkel wurde.In den Wohnungen gingen nach und nach die Lichter an,die Scheinwerfer der Autos auf der Ausfallstraße flammten auf, die Sonne war weg, die Wärme blieb. Die Wärmewurde nicht weniger, sie stand zwischen den Häusern undveränderte sich nicht. Ich gewöhnte mir an, runter zurTankstelle zu gehen und Eis zu kaufen. Ich zog mir einTrägerkleid über und Flip-Flops an, nahm den Schlüsselund Kleingeld und ging runter, ich fuhr nie mit dem Fahrstuhl, ich ging durch das stickige, dreckige Treppenhaus,und ich machte im Treppenhaus nie das Licht an. Draußen war es noch heißer, der Asphalt war weich von derHitze, und überall standen die Fenster auf, man konntedie Fernseher hören, das Streiten, das Zuknallen von Türen. Die Autos rollten in Zeitlupe an die Zapfsäulen, dieLeute tankten wie im Schlaf. Die Eingangstür öffnete sichvon alleine, und drinnen war es hell und kühl. Es lief immer das Radio. Ich schob die Eistruhe auf, stand so langewie möglich vor der offenen Truhe herum, dann nahm ich10

ein Moskauer-Eis. Ausschließlich ein Moskauer-Eis, niemals ein anderes, aber ich tat trotzdem jedes Mal so, alskönnte ich mich nicht entscheiden. An der Kasse saß eineFrau in dem Alter, in dem ich heute bin, erstaunlicherweise las sie ein Buch, und sie legte es, wenn sie kassierenmusste, auf eine äußerst widerwillige Art beiseite, michbeeindruckte das. Es war Abend für Abend dieselbe Frau,und wir wechselten den ganzen Sommer über kein persönliches Wort miteinander.An dem Abend, von dem ich erzählen wollte, standenzwei Leute an der Kasse, die getankt hatten und jedeMenge Chips, Lakritze und Tabak kauften, ich hatte darüber nachgedacht, an der offenen Eistruhe zu warten, dieArme bis zu den Ellbogen in ihrer trockenen Kälte versenkt, aber schließlich schob ich die Truhe doch zu undstellte mich an. Die Eingangstür surrte auf, und ein alterMann kam rein. Er trug einen auf schlichte Weise feinenschwarzen Anzug, seine Haare waren schlohweiß, seinGesicht verwittert wie Holz, er sah aus, als käme er voneinem Staatsbegräbnis. Ich sah ihn aus den Augenwinkelnreinkommen, er stellte sich direkt hinter mich in die Reiheund bohrte seinen Blick umstandslos zwischen meine bloßen Schulterblätter. Ich konnte seinen Blick spüren undrückte einen Schritt vor. Er wartete noch einen Moment,dann berührte er mich am Ellbogen, und ich drehte michum.Er sagte, Sie sind klein. Genau richtig für mich.Ich erinnere mich deutlich an seine Stimme, sie warsehr leise, ziemlich hell für einen alten Mann und etwas11

rau. Vielleicht sprach er mit leichtem südlichem Akzent.Ich möchte betonen, dass das, was er sagte, nicht zweideutig klang. Nicht obszön. Es war nur eigenartig, es ergab keinen Sinn. Ich war damals nicht klein. Ich bin esheute nicht und war es damals auch nicht, ich bin einenMeter und siebenundsechzig Zentimeter groß. Ist dasklein? Nein, und ich sagte ihm das.Er hob beide Hände, Handinnenflächen zu mir gedreht, die Haut schwielig und sauber.Nein, nicht wirklich, natürlich. Sie sind nicht klein. Siesind ganz normal. Aber Sie sind klein genug für meinenTrick. Sie haben die richtigen Füße, Ihre Schultern sindschmal. Ich brauche eine neue Assistentin. Sie sehen soaus, als wären Sie die richtige.Das war es, was er sagte.Ich sagte, die richtige Assistentin für was.Ich wollte das nicht fragen, aber ich fragte es, ichwollte gar kein Gespräch mit ihm führen, aber ehe ichmich versah, führten wir eines.Er sagte, für meine Kiste. Die zersägte Jungfrau. EineAssistentin zum Zersägen. Ich bin Zauberer.Diese Leute mit den Chips, dem Bier und dem Tabakwaren mit einem Mal verschwunden, sie hatten sichschlicht in Luft aufgelöst, und die Frau an der Kassestarrte uns an und sagte, der Nächste bitte. Mann. DerNächste. Sie sind dran. Ein Moskauer-Eis, und darf’ssonst noch was sein.Ich sagte, nein danke. Entschuldigung. Nichts weiter,das ist alles.12

Ich bezahlte mein Eis. Der alte Mann blieb hinter mir,er blieb auf eine äußerst hartnäckige Weise dicht an mirdran.Er sagte, darf ich Sie ein Stück begleiten.Sie müssten erst mal bezahlen, oder.Oh nein, ich hab nicht getankt. Ich habe Sie durchsFenster gesehen, ich bin vorbeigelaufen und habe Sie entdeckt. Darum bin ich reingekommen.Die Frau an der Kasse guckte exakt über uns hinweg.Ihr Blick verriet nichts, jedenfalls konnte sie mir auchnicht helfen. Sie schlug ihr Buch wieder auf und wandtesich von uns ab, kehrte uns ihre rechte Schulter zu, ihrverschlossenes Leserprofil, also gingen wir zusammenraus. Er ging schnell für einen alten Mann, behände, tänzerisch, er war kleiner als ich, etwas bucklig, und er sahnicht wie ein Zauberer aus.Ich sagte, okay. Sie können mich auf gar keinen Fallbegleiten.Er sagte, gut. Aber würden Sie sich das überlegen? Esist sehr einfach. Sie müssen sich in eine Kiste legen, ichzersäge Sie – zum Schein –  , und dann setze ich Sie wieder zusammen. Wir können es ausprobieren. Sie kommenmich besuchen, wir probieren es aus.Er zeigte alles, was er sagte, mit seinen Händen vor, dieKiste, das Sägen, das Zusammensetzen. Ich kannte denTrick mit der zersägten Jungfrau, ich hatte das im Fernsehen gesehen. Der Trick war steinalt, und wirklich jederwusste Bescheid.Ich sagte, ach, ich bin mir nicht sicher.Er sagte, ja, das verstehe ich. Machen Sie sich keine13

Sorgen. Meine Frau ist dabei. Sie wird aufpassen, es wirdnichts geschehen. Sie müssen sich nur hinlegen. Sie müssten eventuell ein rotes Kleid tragen. Es ist wirklich allesandere als schwer.Ich sagte nichts, und er sah an mir vorbei zu den erleuchteten Fenstern der hohen Häuser hin und lächeltegeduldig und sanft. Sein Anzug war so auffällig sauber,sorgfältig gebügelt, wahrscheinlich maßgeschneidert, ertrug spitze Schuhe aus Schlangenleder, und diese Schuhewaren das einzig Verdächtige an ihm, sie waren extrava gant, und zudem waren sie staubig.Er steckte die Hände jetzt in die Hosentaschen, er hattemir alles gezeigt.Ihm war offensichtlich überhaupt nicht heiß.Er machte einen gelassenen Eindruck.Er sagte, denken Sie darüber nach. In Ruhe. Und dannkommen Sie uns besuchen. Steinstraße sieben. Wir sindeigentlich immer da.Ich sagte, ich denke drüber nach.Ich drehte mich um und ging los, ich ließ ihn einfachstehen. Ich ging nicht rüber zu meinem Haus, ich ging indie andere Richtung, ich dachte, dass er wirklich nichtwissen musste, wo ich wohne. Ich wickelte mein Moskauer-Eis aus dem Papier, aber es war inzwischen fast geschmolzen, es zerlief, und ich schmiss es weg.Ich dachte eine Woche lang darüber nach. Ich stand eineWoche lang acht Stunden am Tag vor meiner Maschineund dachte darüber nach. Ich saß bis weit nach Mitternacht auf meinem Balkon und rauchte noch mehr Zi14

garetten als sonst und dachte darüber nach, es war irreanstrengend, darüber nachzudenken. Nach sieben Tagengab ich auf und suchte die Steinstraße auf dem Stadtplan.Er wohnte ganz am anderen Ende der Stadt, es war unklar, was er in der Neubausiedlung verloren gehabt hatte,warum er da rumgelaufen war in seinem gebügelten Anzug und seinen Schlangenlederschuhen. Ich brauchte eineWeile, bis ich wusste, was ich anziehen sollte, ich besaßdamals ein rotes und ein blaues Kleid, ich zog erst dasrote an, und dann zog ich es wieder aus und entschiedmich für das blaue. Ich kämmte meine Haare, ich standlänger vor dem Spiegel, ich setzte mich an den Küchentisch, ich stand wieder auf und ging los. Ich ging los, weilich nicht mehr darüber nachdenken wollte, ob ich losgehen sollte oder besser nicht.Ich musste mit dem Bus fahren, mit einem zweiten, einganzes Stück durch eine Straße mit Bungalows laufen,Bungalows hinter weiß gestrichenen Zäunen, auf deren Terrassen Hollywoodschaukeln standen, Azaleen inTontöpfen unter Markisen aus geflochtenem Stroh, Rasensprenger auf kurz geschnittenem Gras, ihre Wasserschleier wie Regenbögen. In den offenen Garagen parktendie Autos vor fachmännisch gestapeltem Holz, die Wegewaren mit Kies bestreut. Die Leute, die hier lebten, waren nicht arm und nicht reich, sie besaßen einfach etwas,und ich dachte – ich besitze nichts. Ich hatte meine Taschedabei, ja, und in der Tasche waren mein Portemonnaie,mein Schlüssel, meine Zigaretten, mein Feuerzeug, aberdas war alles. Damals war das alles, was ich brauchte,15

oder ich nahm an, ich bräuchte weiter nichts. Ich nahman, ich hätte von dieser mittleren Stadt aus sofort in eineandere gehen können.Der Bungalow des Zauberers war der letzte der Straße,er sah nicht anders aus als die anderen Bungalows. Hinter dem Bungalow begannen die Berge, die Straße hörteauf, sie wurde ein Trampelpfad, der sich zwischen Ginsterbüschen verlor. Kein Auto in der Garage. Kein Holz.Im Garten standen Bäume mit dunklen, fast schwarzenBlättern. Die Jalousien vor den Fenstern waren heruntergelassen, wahrscheinlich wegen der Hitze. Ich stand vordem Haus herum, es kann sein, dass ich es mir noch einmal anders überlegen wollte; letztlich hoffte ich vielleicht,es wäre einfach keiner da. Aber dann ging die Tür auf,und er kam heraus. Dieser Zauberer kam raus, in seinenSchlangenlederschuhen, seiner Anzugshose und einem ärmellosen Unterhemd. Er hatte mich gesehen. Er kam mitausgebreiteten Armen auf mich zu, und es war deutlich,dass er sich freute.Kommen Sie rein. Kommen Sie rein! Sie haben darübernachgedacht, das ist wunderbar. Es ist wirklich schön. Siehaben sich entschieden. Sie machen mich glücklich.Also ging ich rein.Wie hätte ich widerstehen können?Ich ging hinter ihm her ins Haus. Er hielt mir die Tür auf,er machte die Tür vorsichtig hinter mir zu. Der Flur warschmal, er zeigte auf einen Bügel an einer leeren Garderobe, es gab nichts, was ich daran hätte hängen wollen.16

S. FISCHER. Aus Verantwortung für die Umwelt hat sich der S. Fischer Verlag zu einer nachhaltigen Buchproduktion verpflichtet. Der bewusste . 114, D-60596 Frankfurt am Main Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 978-3 10-397035 7. 7