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Regionale Fortbildung des RP KarlsruheHerbst/Winter 2018/19Neue Pflichtlektürenim Fach Deutsch ab Abitur 2019Johann Wolfgang von Goethe, Faust IE.T.A. Hoffmann, Der goldne TopfHermann Hesse, Der SteppenwolfKontextuierung und VergleichFaust IDerSteppenwolfDer goldneTopfElke Anastassoff, Prof‘inStaatliches Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (Gymnasien), HeidelbergHohenstaufen-Gymnasium, Eberbach
InhaltI.Synopse zur Kontextuierung möglicher VergleichsaspekteDie Entwicklung des Protagonisten . 1Der Protagonist – jenseits des ‚Normalen‘ . 1Der Protagonist und die Frau(en) . 2Die Einsamkeit bzw. Isolation des Protagonisten; der Protagonist in der Gesellschaft . 3Die Konstellation von Protagonist und Antagonist;Instanzen von Bedrohung und Rettung, von Gut und Böse . 4Der Protagonist: Aspekte von Scheitern und Gelingen . 5Ein Leben in der Normalität? – Der Einbruch des Phantastischen, Magischen,Übernatürlichen . 6Ein Leben in der Normalität? – Seelische Verwirrung, Verrücktsein, Wahnsinn . 8Übergeordnete Aspekte; das Werk im epochalen Kontext . 11II.Synopse mit Arbeitsaufträgen zur Untersuchung ausgewählter Textstellenmit vergleichbaren Begriffen, Motiven, SzenarienDidaktische Vorbemerkungen . 12Kompetenzorientierung . 131) Verlockende Düfte und Kontrastwelten:a) Textblatt .14b) Aufgabenblatt: Höheres Anforderungsniveau .17c) Aufgabenblatt: Mittleres Anforderungsniveau . . 18d) Textblatt mit Markierungen: Mögliche Ergebnisse . . 20e) Auswertung der Textbefunde: Mögliche Ergebnisse .232) Glühendes Hexengebräu und tierisches Chaos;Spiegelbilder und unwirkliche Gestalten:a) Textblatt .25b) Aufgabenblatt: Höheres Anforderungsniveau .29c) Aufgabenblatt: Mittleres Anforderungsniveau .30d) Textblatt mit Markierungen: Mögliche Ergebnisse .32e) Auswertung der Textbefunde: Mögliche Ergebnisse . 36III.Die Pflichtlektüren 2019 ff im Kontext der Themenfelder –Beispiele zur Integration weiterer literarischer Texte . 38IV.Literaturverzeichnis .39
Elke Anastassoff, SSDL HeidelbergNeue Pflichtlektüren im Deutsch-Abitur Baden-Württemberg 2019 ffI. Synopse zur Kontextuierung thematischer Vergleichsaspekte1245J.W. Goethe, „Faust I“und ggf. Teil II, fünfter Akt3E.T.A. Hoffmann, „Der goldne Topf”H. Hesse, „Der Steppenwolf“Die Entwicklung desProtagonistenDer Protagonist entwickelt sich vomlebensfernen Gelehrten, der unter denGrenzen menschlichen Wissens leidet,zum Getriebenen, der beim Versuch, mitHilfe des Teufels seine Unzufriedenheit zuüberwinden und höchsten Genuss zuerlangen, eine Spur der Zerstörung hinterlässt (Faust I), Raum und Zeit überwindet,schließlich aber die Dialektik vonVergehen und Werden als Agens desGuten erfährt (Faust II, 5. Akt).Der Protagonist entwickelt sich vomunbedarften, linkischen Studenten dankseiner Phantasiebegabtheit zu einer Figurder von ihm geschauten Märchenwelt –allerdings um den Preis, sein bürgerlichesLeben für ein „Leben in der Poesie“ (S.102) aufzugeben.Neue Perspektiven und Ansätze zu einerEntwicklung werden beim ProtagonistenHarry Haller bis zuletzt durch Rückfällekonterkariert – zu stark ist seine Fixierungauf die dualistische Fiktion ‚Mensch vs.Steppenwolf‘ mit ihren lebensfeindlichenImplikationen. Vom eher naiven Anselmusunterscheidet ihn seine permanenteSelbstreflexion, von Faust seine darausresultierende Handlungshemmung.Der Protagonist –jenseits des‚Normalen‘Der vom Wunsch zu erkennen, „was dieWelt / im Innersten zusammenhält“ (V.382 f) besessene Gelehrte Faust verfügtvon Beginn an über außergewöhnlichemagische Fähigkeiten (Beschwörung desErdgeists); im Bund mit dem Teufelbedient er sich zu seinem Vorteil dunklerübernatürlicher Mächte (Verjüngung in derHexenküche; Tötung Valentins mit HilfeMephistos; sinnliche Vergnügungen inSatans Reich in der Walpurgisnacht).Der sensible Jüngling Anselmus verfügtüber die Fähigkeit zu ‚schauen‘, d.h.mittels der Phantasie in imaginäre Weltenvorzudringen und Dinge zu erleben, dieeinem rational orientierten Menschen inder Alltagswirklichkeit verschlossenbleiben.Normalität verkörpert sich für den bewussteine Außenseiter-Existenz führenden HarryHaller in der ‚neutralen lauen Mitte‘ desBürgerlichen (vgl. S. 72, 81), der ereinerseits mit radikaler Kulturkritik undbeißendem Spott begegnet, von der er sichandererseits aber nicht wirklich lösen kannund zuweilen sogar in sentimentalerRegung angezogen fühlt, weil sie denDualismus der Steppenwolf-Existenz nichtkennt.1Modifiziert und erweitert nach einer Vorlage von Reinhard Lindenhahn und Martin Brück.Zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil. Stuttgart: Reclam Universal-Bibliothek Nr. 1, 20003Zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Stuttgart: Reclam Universal-Bibliothek Nr. 2, 20014Zitiert nach: E.T.A. Hoffmann: Der goldne Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit. Stuttgart: Reclam Universal-Bibliothek Nr. 101, 20045Zitiert nach: Hermann Hesse: Der Steppenwolf. Frankfurt a.M.: suhrkamp taschenbuch Nr. 175, 55. A., 201521
Elke Anastassoff, SSDL HeidelbergDer Protagonist unddie Frau(en)Zwar entsteht bei Faust imZusammensein mit dem einfachenBürgermädchen Margarete aus derursprünglich dominierenden Begierdenach rein körperlicher Lust auch tiefempfundene seelische Zuneigung;dennoch bleibt sie für ihn letztlich Mittelzum Zweck der gesteigertenSelbsterfahrung und höheren Erkenntnis.Margaretes soziale Ächtung als unehelichSchwangere nimmt er fatalistisch ebensoin Kauf, wie er die Verantwortung für ihrpsychisches und physisches Leid bis hinzu ihrer Einkerkerung als Kindsmörderinverdrängt.In der Schlussszene lehnt MargareteFausts Rettungsversuch zurBeschwichtigung seines schlechtenGewissens ab, da sie nicht, wie er esvorschlägt, „das Vergangne vergangensein“ (V. 4518) lassen kann und nicht „mitbösem Gewissen“ (V. 4547) weiterlebenwill; sie stellt sich vielmehr ihrer Schuldund weltlichen Strafe durch dieHinrichtung, indem sie sich in tieferFrömmigkeit dem Urteil Gottes anvertraut.Ihre Haltung erweist sich – ungeachtetihrer geistigen Verwirrtheit – demhalbherzigen, auf die Unterstützung desTeufels angewiesenen AktionismusFausts als moralisch überlegen. Währendeine „Stimme von oben“ ihre Rettungverkündet (und damit auf ihreErscheinung als himmlische Büßerin inder Schlussszene von Faust II verweist),überlässt Faust sich resignierendMephistos Führerschaft.Anselmus steht zwischen zwei um seineLiebe konkurrierenden Frauengestalten;beiden gibt er ein Eheversprechen:Serpentina, der Tochter des ArchivariusLindhorst aus dem Märchenreich (8.Vigilie), und Veronika, der Tochter desKonrektors Paulmann aus der Bürgerwelt(9. Vigilie). Beide sind eher idealtypischeRepräsentantinnen ihrer Sphäre; dies giltinsbesondere für Serpentina, der imGegensatz zu Veronika die sinnlicherotische Dimension der Liebe fehlt: ImKontrast zu den körperlichen Berührungen und dem realen Kuss Veronikas (S.75) steht der nur geträumte Kuss Serpentinas (S. 71 f), deren schlangenhafteGestalt Anselmus immer wieder entgleitet.Dass Anselmus sich am Ende dennochfür das Leben mit Serpentina in Atlantisentscheidet, wo sie „in hoher Schönheitund Anmut" (S. 100) priesterlich auseinem Tempel hervortritt und ihm „dengoldnen Topf“ – das glänzende Symboldes Lebens in der Poesie – entgegenhält,bedeutet auch, dass er die transzendente,ihn poetisch inspirierende Liebe derkörperlich-realen Liebe vorzieht. Wenndagegen Veronika sich am Ende vonihrem Versuch, Anselmus mit Hilfemagischer Rituale an sich zu binden,distanziert und sich „bei der dampfendenSuppenschüssel“ (S. 89) mit dem zumHofrat aufgestiegenen Philister Heerbrandverlobt, räumt sie bereitwillig demspießbürgerlichen Leben in Wohlstandund Ansehen den Vorrang vor der nichtzu realisierenden romantischen Liebe ein.2Die Lebenskünstlerin Hermine ist eineambivalente Figur und vereint die – inHoffmanns Figurenkonzeption getrennten –Bereiche des Wirklichen und desPhantastischen. Sie bewegt sich einerseitsim anrüchigen Halbweltmilieu der„Vergnügungsmenschen“ (S. 157), andererseits gehört sie zum Magischen Theater.Sie kann als Komplementär- oder Spiegelfigur bzw. Projektion Hallers verstandenwerden, die das verkörpert, was ihm fehlt:Lebensfreude, Sinnlichkeit, Tanzen zuUnterhaltungsmusik, Spiel, Humor. Sieversucht den verbitterten IntellektuellenHaller mit dem leichten Leben bekannt zumachen (darin in ähnlicher Funktion wieMephisto bei Faust, allerdings als positiveweibliche Variante mit Geschlechtertranszendierenden androgynen Zügen) undihn aus seiner einsamen, weltfremdenGelehrtenexistenz zu befreien (sein Zimmererinnert an Fausts Studierstube).Die Prostituierte Maria, die Haller aufHermines Vermittlung hin die Erfahrungerfüllender Sexualität verschafft, wird vonihr in diesem Sinne instrumentalisiert (darinähnlich wie Mephisto, der, allerdings unternegativen Vorzeichen, Margarete für Faustsexuell zu instrumentalisieren versucht).Dass Haller in der letzten Vision desMagischen Theaters Hermine tötet, mag alssymbolischer Akt dafür, dass er kein AlterEgo mehr benötigt, gedeutet werden;andererseits erscheint durch diesen Morddas Ende im Hinblick auf eine geglücktePersönlichkeitsentwicklung problematisch.
Elke Anastassoff, SSDL HeidelbergDie Einsamkeit bzw.Isolation desProtagonisten;der Protagonist in derGesellschaftAls hochgebildeter Gelehrter vomeinfachen Volk verehrt und von denStudenten respektvoll anerkannt, fühltFaust sich dennoch unter den Menschenisoliert. Schon sein Eingangsmonolog inder Szene Nacht zeigt, dass ihm seineintellektuelle Überlegenheit über „alle dieLaffen“ (V. 366) ebenso bewusst ist wiedie deprimierende Begrenztheit seineseigenen Wissens. Die düstere Engeseines mit Büchern und akademischemHausrat (Instrumenten, Tierpräparaten,Skeletten) vollgestopften Studierzimmersveranschaulicht nicht nur die von Faustselbst schmerzlich empfundeneAbgeschiedenheit von der lebendigenNatur in seinem „Kerker“ (V. 398), sie istauch der beklemmende räumlicheRahmen für die freudlose Einsamkeitseiner Gelehrtenexistenz, die wederFamilie noch Freunde kennt und ihn bisan den Rand des Selbstmords führt.Einerseits von der bürgerlichenGesellschaft auf Grund seinesungeschickten, notorisch zuPeinlichkeiten führenden Auftretenshäufiger belächelt, ist der StudentAnselmus doch andererseits ein gerngesehener Gast im Freundeskreis umKonrektor Paulmann mit dessen TochterVeronika sowie Registrator Heerbrand,der ihm zudem eine baldige beruflicheKarriere zutraut. Dass Anselmus derverliebten Veronika verspricht, sie zuheiraten, sobald er tatsächlich Hofratgeworden ist (S. 75), lässt seineIntegration in die Bürgerwelt in greifbareNähe rücken.Allerdings gibt Anselmus mit seinerverträumten Art aus Sicht seinerrationalen Freunde immer wieder Anlasszur Besorgnis über seinenGeisteszustand. Dies verschärft sich, seiter bei dem Archivarius Lindhorst – der alshoher Beamter und als geheimnisvolleMärchenfigur ein Doppelleben führt – eineStelle als Schreiber bekleidet und vonheftiger Liebe zu dessen SchlangenTochter Serpentina ergriffen ist. Zwarschwindet Anselmus‘ Faszination für diePhantasiewelt, als ihn die schwarzeMagie der Frau Rauerin vorübergehendwieder in den Kreis um Paulmann undVeronika zurückführt. Am Ende löst ersich jedoch dauerhaft von derbürgerlichen Gesellschaft und ihrenVertretern und entscheidet sich für eineromantische Existenz als Dichter in dermärchenhaften Gegenwelt Atlantis.3Schwere Lebenskrisen haben bei HarryHaller zum Aufbau der Fiktion deseinsamen Steppenwolfs und damit zuseiner Isolierung in der Gesellschaftgeführt. Intellektuelle Überlegenheit paartsich mit Depressivität und Todessehnsucht(die ihn, ähnlich wie Faust, fast zumSelbstmord führt). Haller findet seinen Platzweder in der – nach außen hin von ihmverachteten, heimlich aber vermissten –Ordnung der wohlanständigen Bürgerweltnoch im orgiastischen Chaos der Halbwelt(das an die Walpurgisnacht erinnert).Auch als Intellektueller ist Haller Einzelgänger, der sich den großen Künstlern derVergangenheit, den „Unsterblichen“ (insbesondere Mozart und Goethe) verpflichtetfühlt. Im Unterschied zu Anselmus wird dasÄsthetische als Erlösung vom Realenjedoch nicht zum Mythos verdichtet. DasMagische Theater ist kein Endstadium,sondern Mittel zum Zweck einerEntwicklung, die auf eine Realisierung allerPersönlichkeitsaspekte angelegt ist. Diesesanspruchsvolle Ziel ist zwar frei vom ichzentrierten, in seinem Ehrgeiz gefährlichenStreben Fausts, fördert aber auchfragwürdige Ausprägungen zu Tage: Dasim Tractat vertretene Menschenbild derAbgrenzung genialer Ausnahmemenschenvon der Masse der „Herdenmenschen“ (S.62) in Verbindung mit einer Abwertung derDemokratie (vgl. S. 85) ist ebenso wie dasbei der Hochjagd auf Automobile (S. 230)zelebrierte ‚Reduzieren‘ (vgl. S. 241) derÜberbevölkerung durch wahllose Massenerschießungen kritisch zu bedenken.
Elke Anastassoff, SSDL HeidelbergDie Konstellationvon Protagonist undAntagonist;der Grundkonflikt;Instanzenvon Bedrohung undRettung,von Gut und BöseMephisto als Antagonist Fausts hat dasZiel, die Wette um dessen Seelenheil zugewinnen. So versucht er Faust dazubringen, gegen die ursprünglichemenschliche Natur des dynamischenStrebens nach Entwicklung (im Sinne deraristotelischen Entelechie) und desDrangs nach Überschreiten von Grenzenzu handeln und dafür statisch inselbstgefälliger Ruhe den ‚schönenAugenblick‘ zu genießen (vgl. V. 1699 f).Doch während Mephisto gemäß seinemSelbstverständnis als „Geist, der stetsverneint“ (V. 1338) seine Bemühungenauf das Negative, Destruktive richtet, hatihm der Herr im Prolog von Anfang an diepositive Funktion der Anstachelung derTätigkeit des Menschen – die sonst leichtzu „erschlaffen“ (V. 340) drohe –zugewiesen; im göttlichen Heilsplan „reiztund wirkt“ (V. 343) der Teufel alsKatalysator des Guten. So verhindertMephisto mit seinen Versuchen geradezu,dass Faust zur Ruhe kommt; er handeltletztlich gegen seine eigenen Interessen.Während Mephisto hofft, Fausts seelischeZerrissenheit zwischen dem Streben nachdem Göttlichen und dem Verhaftetsein imIrdischen nutzen zu können, um ihn aufseiner „Straße“ (V. 314) zu führen, mussaus göttlicher Sicht die Entwicklung eines‚guten‘ Menschen keineswegs geradlinigverlaufen: Der Herr vertraut darauf, dassFaust als Mensch, der „strebt“ (V. 317),durch alle Irrtümer hindurch „sich desrechten Weges wohl bewusst“ (V. 329) ist.Das Äpfelweib (die Hexe alias FrauRauerin bzw. Liese) tritt als Antagonistindes Studenten Anselmus wie auch desArchivarius Lindhorst auf. Sie stammt wiedieser aus der mythischen Märchenwelt,vertritt aber das Prinzip des Bösen, derdunklen Magie. Sie ist bestrebt, die Liebezwischen Anselmus und der als Schlangeerscheinenden Tochter des Archivarius –und somit Serpentinas Erlösung durch dieHeirat mit einem poetisch veranlagtenJüngling – zu verhindern, indem sie mitHilfe von Zauberritualen versucht, ihn mitder Bürgerstochter Veronika, der sieschon als Kinderfrau gedient hat, zuverkuppeln.Die mysteriöse Prophezeiung „ins Kristallbald dein Fall“ (S. 5), die das ÄpfelweibAnselmus schon bei der erstenBegegnung androht, erfüllt sich für ihnunerwartet in der klaustrophobischenErfahrung des Eingesperrtseins in einerGlasflasche, als er sich kurzfristig demBann der Liebe zu Serpentina entzogenund sich der Sphäre um Veronika wiederzugewandt hat. Anselmus‘ Situation kannals Sinnbild eines ihm bevorstehendeneingeengten, unbeweglichen Lebens imbürgerlichen Alltagsgefängnis gedeutetwerden. Da er dies jedoch selbst erkenntund sich reumütig zur Liebe und zumGlauben an Serpentina bekennt, kann erim finalen magischen Kampf zwischendem Archivarius und der Hexe – der mitdem Sieg des Geisterfürsten endet – ausdem Kristall gerettet werden.4Harry Haller ist sein eigener Antagonist; derGrundkonflikt ist ins Innere desProtagonisten verlagert (allerdings kannauch Mephisto als eine WesensdimensionFausts gedeutet werden). Mit dem Konzeptder multiplen Ich-Struktur (angelehnt anfernöstliche Mythologien sowie diePsychoanalyse nach C.G. Jung) wirdInnerpsychisches zum wesentlichenSchauplatz des Geschehens. Im Tractaterfolgt eine Auseinandersetzung mit der(aristotelisch geprägten) AnthropologieGoethes unter direkter Bezugnahme auf die„Zwei-Seelen“-Thematik in dessen DramaFaust (vgl. S. 79): Den darin überliefertenabendländischen Dualismus von göttlichenIdealen und animalischen Trieben, vonVernunft und Sinnlichkeit, Geist und Natur,Gut und Böse kritisch als vereinfachendesKonzept ablehnend, wird auch Hallersdualistische Ich-Fiktion des Gegensatzesvon Mensch und Wolf als banal undunzulänglich verworfen; stattdessen wirdals Ziel wahrer „Menschwerdung“ (S.84) dieAufhebung der Individuation durch eineErweiterung der Seele in eine Vielzahl vonPersönlichkeitsaspekten gefordert.Neben dem inneren Konflikt resultiert eineäußere Bedrohung des Protagonisten ausInstitutionen in Politik und Gesellschaft, daHaller als pazifistisch eingestellter Publizistvon den Presseorganen der alten Elitenöffentlich diffamiert wird. Typische Vertreterdes nationalkonservativen Bürgertums (derProfessor) wirken jedoch eher harmlos undbeschränkt (vgl. S. 103 ff).
Elke Anastassoff, SSDL HeidelbergAspekte vonScheitern undGelingenDie Frage nach dem Ausgang der Wette –und damit nach der Verdammnis oderRettung des Protagonisten, der, an seinenhohen Zielen gemessen, weitgehendgescheitert erscheint – bleibt am Endevon Faust I offen. Erst im fünften Akt vonFaust II wird der dramatische Konflikt aufgelöst: Wenn der blindgewordene GreisFaust beim Spatenklang von Erdarbeiten(die laut Mephisto dazu dienen, sein Grabzu schaufeln) irrtümlich glaubt, seineVision eines Lebens „auf freiem Grund mitfreiem Volk“ (V. 11580), bei der „einparadiesisch Land“ (V. 11569) geschaffenwird, sei in greifbare Nähe gerückt, sprichter in diesem Kontext zwar den Schlüsselsatz der Wette aus: „Zum Augenblickedürft ich sagen: / Verweile doch, du bistso schön!“ (V. 11581f). Er formuliert diesjedoch nur konjunktivisch bzw. futurischals Antizipation seiner Gesellschaftsutopie: „Im Vorgefühl von solchem hohenGlück / Genieß ich jetzt den höchstenAugenblick“ (V. 11585 f). EntgegenMephistos Erwartung kann daher in derSchlussszene eine Engelschar FaustsRettung „vom Bösen“ verkünden: „Werimmer strebend sich bemüht, / Denkönnen wir erlösen“ (V. 11934 ff). AuchGretchen, die im Kreis der Büßerinnenihren Platz in der himmlischen Sphäregefunden hat, nimmt sich in Fürbitten beider Gottesmutter seiner an; das Dramaendet mit den Schlussversen des Chorusmysticus zuversichtlich in der Richtungsweisung nach oben („hinan“) zumGöttlichen, zu dem „das Ewig-Weibliche“(V. 12110 f) Faust hinführe.Während Veronika sich mit dem Scheiternihrer Liebe zu Anselmus durch ein prestigeträchtiges, am materiellen Wohlstandorientiertes Leben als Hofrätin an derSeite Heerbrands rasch arrangieren kannund dem Bürgertum somit endgültig verhaftet bleibt, entscheidet sich der aus demKristall befreite Anselmus im Konfliktzwischen Märchen- und Bürgerwelt für diedichterische Phantasie. Es gelingt ihm, imIdealreich der Poesie seine Bestimmungin seiner neuen Identität als Dichter zufinden; freilich muss er dafür den endgültigen Verlust der Alltagsrealität und dasScheitern seiner sozialen Beziehungen zuseinen Bürgerfreunden, einschließlich derLiebe zu Veronika, in Kauf nehmen.Der mythische Kampf zwischen demfreundlichen Prinzip, für das Lindhorststeht, und dem feindlichen Prinzip, dasvon der Rauerin verkörpert wird, endet mitdem Sieg des Guten: Die Versuche derHexe, den Studenten mit dunkler Magieseiner höheren Bestimmung zu entfremden (darin vergleichbar mit Mephistosdestruktiven Bestrebungen), scheitern.Die physische Vernichtung der Hexe imKampf mit dem Archivarius besiegelt ihreNiederlage. Lindhorst gelingt es nicht nur,Anselmus den Weg ins Reich der Poesiezu eröffnen; nicht ganz uneigennützigkommt er so seiner Rückkehr nachAtlantis näher, da durch die Vermählungseiner Tochter mit einem Jüngling, derüber „ein kindliches poetisches Gemüt“(S. 70) verfügt, eine Bedingung für seineeigene Erlösung erfüllt ist.5Hermine alias Hermann, die schillerndeSeelenverwandte Hallers, wie auch dieerotisch versierte Prostituierte Maria undder bisexuelle, drogenkonsumierendeJazzmusiker Pablo aus der Welt desMagischen Theaters fungieren alsHelferfiguren, die Harry HallersMetamorphose anregen und zurBereicherung und Entfaltung seiner bisdahin unausgereiften Persönlichkeitbeitragen.Inwieweit diese Entwicklung jedoch alsgeglückt oder gescheitert zu erklären ist,muss am Ende des Romans offen bleiben,insbesondere angesichts HerminesErmordung aus Eifersucht, die in Hallersabschließendem Gespräch mit dem„Unsterblichen“ Mozart alias Pablo vondiesem als „Schweinerei“ (S. 278) kritisiertwird. Zumindest bekundet Haller seineBereitschaft, das Figurenspiel des Lebenserneut aufzunehmen und dabei den Rat,Lachen und Humor zu erlernen, künftig zubeherzigen.
Elke Anastassoff, SSDL HeidelbergEin Leben in derNormalität? –Der Einbruch natürlich-Transzendentes erweistsich als Handlungsdimension desDramas; dabei kommt es vielfach zuInterferenzen magisch-traumhafterElemente (‚Zauber‘) mit der Wirklichkeit: Beginn der dramatischenHandlung um den ProtagonistenFaust im transzendenten Bereichdes Prologs im Himmel mit derWette zwischen Gott und Teufelum Fausts Seelenheil. Flammenerscheinung desErdgeists, den Faust aus dessenGeistersphäre zwar „mächtigangezogen“ (V. 483) hat, deraber Fausts Anmaßung,‚seinesgleichen‘ (V. 500) zu sein,spöttisch zurückweist – imKontrast zum anschließendenDialog Fausts mit Wagner („dertrockne Schleicher“, V. 521) in derrealen Sphäre seiner Studierstube. Mephistos Erscheinung als „desPudels Kern“ (V. 1323), die Faustzu der Frage führt, ob ihm „einTraum den Teufel vorgelogen“habe (V. 1528). Mephistos Parodie auf denGelehrten Faust im Dialog mitdem Schüler, dem das Gespräch„als wie ein Traum“ (V. 2040)vorkommt. Mephistos „Hokuspokus“ (V.2307) mit den Zechern inAuerbachs Keller.Die im Untertitel als „Märchen“ benannteErzählung weist der Gattung gemäßzahlreiche phantastische Elemente auf,die mit der Realität interferieren: Die ambivalente Figur desArchivarius Lindhorst: Als hoherköniglicher Beamter undchemisch experimentierenderPrivatgelehrter ist er einangesehenes Mitglied der realenDresdner Gesellschaft, führt aberin seinem Haus mit sprechendenTieren und exotischen Pflanzenzusammen mit seinen dreiSchlangen-Töchtern eine ParallelExistenz als unter die Menschenverbannte Märchenfigur aus demElementargeister-Geschlecht derSalamander; er verfügt zwar übermagische Kräfte, ist aber für dieErlösung seiner Familie aufAnselmus‘ Liebe zu Serpentinaangewiesen. Die Figur des – dem Archivariussowie Anselmus feindlichgesonnenen – Äpfelweibs, diesich in diversen Gestalten undGegenständen verkörpert: Sieerscheint als Türklopfer (S. 20),als Kaffeekanne (S. 43, 85), alsFrau Rauerin alias Liese, diefrühere Kinderwärterin Veronikas,sowie als Hexe (S. 42) mitschwarzen Zauberkünsten, dienach ihrer Niederlage im finalenKampf mit dem Archivarius – ihrerHerkunft gemäß – als „garstigeRunkelrübe“ (S. 88) endet.6Reale und phantastisch-psychischeVorgänge interferieren immer wieder. DasPhantastische markiert im Unterschied zuden beiden anderen Werken keinentranszendenten Bereich (Goethe:Theodizee-Problematik, Hoffmann: Kunstals Religion), sondern verweist auf diepsychoanalytische Anthropologie (Freudsund v.a. Jungs): Hallers Entdeckung des nurkurzzeitig sichtbaren Portals in deralten Steinmauer mit der LeuchtInschrift „Magisches Theater“ –„Eintritt nicht für jedermann“(S. 42 f, S. 50) und Kauf desJahrmarktsbüchleins mit dem„Tractat vom Steppenwolf“ von demfremden Bauchladenverkäufer mitdem Plakat für die „AnarchistischeAbendunterhaltung“ (S.51). Unerwartetes Wiedererkennen desPlakatträgers bei einem Trauerzug;Befolgung von dessen Rat anHaller, ins Wirtshaus ‚Zumschwarzen Adler‘ zu gehen, wenner „Bedürfnisse“ (S. 97) habe; dortBegegnung mit Hermine, derandrogynen Spiegelfigur Hallers. Hallers Unterhaltung mit Goethe ineinem surrealen Traum vollererotischer Symbolik: der Skorpionals „Wappentier der Weiblichkeitund Sünde“ (S. 123); die „Primel“als phallisches Symbol (S. 127); ein„winziges Frauenbein auf [ ]Samt“ (S. 128) als Fetisch, der beiHaller zum „Zwiespalt vonBegehren und Angst“ (ebd.) führt.
Elke Anastassoff, SSDL Heidelberg Fausts Verjüngung in derHexenküche trotz seinesWiderwillens gegen „das tolleZauberwesen“ (V. 2337) und derAnblick der schönsten Frau im„Zauberspiegel“ (V. 2430).Mephistos Manipulationen beiFausts Eindringen in GretchensWelt: das Deponieren der beidenSchmuckkästchen („Es geht nichtzu mit rechten Dingen“, V. 2894)und die Vereinnahmung derNachbarin, Frau Marthe („einWeib wie auserlesen / ZumKuppler- und Zigeunerwesen“, V.3029 f).Mephistos heimlicheUnterstützung bei Fausts Duellmit Valentin („Ich glaub, derTeufel ficht“, V. 3709).Faust und Mephisto in der„Traum- und Zaubersphäre“ (V.3871) der Walpurgisnacht.Fausts vergeblicher Versuch, mitHilfe der mephistophelischen„Zauberpferde“ (S. 129) Gretchenaus dem Kerker zu entführen;Verkündung einer Stimme ausdem transzendenten Bereich „vonoben“, Gretchen sei „gerettet“ (V.4612). Die „Punschgesellschaft“ (S. 73)im Kreis der Familie Paulmann(Konrektor, Veronika, Heerbrand,Anselmus): Alkoholgenuss alsKatalysator für die biederenBürger, das Märchenhafte zuschauen; grotesker Auftritt desgravitätischen Männchens, dasals Papagei ein Abgesandter ausder Märchenwelt ist.Der ‚Fall ins Kristall‘: WährendAnselmus sein surrealesEingesperrtsein in einer engenKristallflasche physisch undpsychisch als bedrückendeGefangenschaft wahrnimmt, istden fünf anderen in der Bibliothekdes Archivarius in Glasflascheneingesperrten jungen Männerndieser Zustand nicht bewusst; siebefinden sich in ihrerWahrnehmung gemeinsam mitAnselmus auf der Elbbrücke –ohne dass explizit klar würde,welche der beiden Sichtweisenals Täuschung zu gelten hat.Anselmus‘ Erklärung, „sie wissennicht, was Freiheit und Leben inGlaube und Liebe ist, deshalbspüren sie nicht den Druck desGefängnisses“ (S. 84), legt dieDeutung der Existenz hinter Glasals Symbol für ein von derPhantasie abgeschottetes Lebenin der bürgerlichen Normalitätohne die befreiende Kraft derpoetischen Liebe nahe. (Zu einerweiteren Deutungsvariante s.u.)7 Erweiterung von Hallers bisherigerüberwiegend geistig-rationalenLebensweise durch die körperlichrauschhaften Erfahrungen vonTanz, Drogenkonsum und Erotik imKontakt mit Hermine, Pablo undMaria.Höhepunkt der Auflösung vonHallers Persönlichkeit beimMaskenball („Alles war Märchen“,S. 215) in der „Unio mystica derFreude“ (S. 216) sowie beim Blickin den „Riesenspiegel [ ] voll vonlauter Harrys oder Harry-Stücken“(S. 229).Mehrere Episoden mitphantastischen Visionen imMagischen Theater; dabeiVerwandlung der Harry-Figurenaus dem Spiegel in kleineSchachfiguren verschiedenerLebensalter und beiderleiGeschlechts („Greise, Jünglinge,Kinder, Frauen“, S. 246).Abschließendes Gespräch Hallersmit Mozart, der sich in Pabloverwandelt und die tote Hermine„zum Spielfigürchen“ verzwergt (S.278).
Elke Anastassoff, SSDL HeidelbergEin Leben in derNormalität? –Seelische Verwirrung,Verrücktsein,WahnsinnMargarete gerät durch die aus derBeziehung zu Faust resultierendeschuldhafte Verstrickung immer tiefer indie seelisch-geistige Verwirrung: Bereits in Gretchens Lied amSpinnrad wird deutlich, dass siedurch die unstatthafteLiebesbeziehung ihrenursprünglichen Seelenfriedenverloren hat („Meine Ruh ist hin /Mein Herz ist schwer“, V. 3374 f)und sie sich in ihrer obsessivenFixierung auf den Geliebten („Woich ihn nicht hab, / Ist mir dasGrab“, V. 3378 f) dem Zustandgeistiger Verwirrung nähert: „Meinarmer Kopf / Ist mir verrückt, /Mein armer Sinn ist mir zerstückt“(V. 3382 ff). Im Dom verkörpert sich ihrquälendes schlechtes Gewissenwegen des Todes von Mutter undBruder („Wo steht dein Kopf? / Indeinem Herzen / WelcheMissetat?“, V. 3784 ff) sowie ihreVerzweiflung über die unehelicheSchwangerschaft als hinter ihrstehender „Böser Geist“, der siemit Strafvisionen vom JüngstenTag in klaustrophobische Panikmit Atemnot bis hin zur Ohnmachtversetzt: „Mir wird so eng! / DieMauerpfeiler / Befangen mich! /Das Gewölbe / Drängt mich! –Luft!“ (V. 3816ff).Das „Märchen“ um den zwischen Bürgerund Geisterwelt zerrissenen Anselmuszeigt unbestritten die Entwicklung desStudenten zum Dichter. In der Forschungwird es vereinzelt unter psychopathologischer Betrachtung auch als Weg einerKünstlernatur in den Wahnsinn gedeutet: Der zu „Melancholie“ (S. 28) und„überspannte[r] Einbildungskraft“(S. 32) neigende Anselmus wirdvon der bürgerlichen Umwelt oft„für betrunken oder wahnsinnig“(S. 16) bzw. „für seelenkrank“ (S.26) gehalten; vom Konrektorwerden seine närrischen „Anfälle“(S.15, 38) getadelt. Aus Sicht derPhilister erscheint der impulsiveJüngling „mente captus“ (S. 90);man fürchtet sogar, von seinem„innern Wahnsinn“ (S. 91)angesteckt zu werden. Auch Anselmus selbst spricht vonder Gefahr, er „wäre wahnsinniggewo
Regionale Fortbildung des RP Karlsruhe Herbst/Winter 2018/19 Neue Pflichtlektüren im Fach Deutsch ab Abitur 2019 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I E.T.A. Hoffmann, Der goldne Topf Hermann Hesse, Der Steppenwolf Kontextuierung und Vergleich Elke Anastassoff, Prof‘in Staatliches Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (Gymnasien), Heidelberg