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Samer Tannous und Gerd HachmöllerKommt ein Syrer nach Rotenburg (Wümme)414 04861 03 Tannous INH s001-240.indd 101.09.20 12:34

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Samer Tannous undGerd HachmöllerVersuche, meine neuedeutsche Heimat zuverstehenDeutsche Verlags-Anstalt414 04861 03 Tannous INH s001-240.indd 301.09.20 12:34

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wirfür deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondernlediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Die Texte dieses Buches sind als Kolumne bei SPIEGEL erschienen und wurdenfür die Veröffentlichung aktualisiert und überarbeitet.Verlagsgruppe Random House FSC N0019673. Auflage 2020Copyright 2020 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in derVerlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München,und SPIEGEL - Verlag Rudolf Augstein GmbH, Hamburg,Ericusspitze 1, 20457 HamburgUmschlag: Büro Jorge Schmidt, MünchenUmschlagmotive: Bernd WiedemannSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenGesetzt aus der Adobe GaramondDruck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in GermanyISBN 978-3-421-04861-5www.dva.deDieses Buch ist auch als E-Book erhältlich.414 04861 03 Tannous INH s001-240.indd 401.09.20 12:34

Für Hala, Christina und CilinaFür Ainhoa, Fritz, Martha und Ludwig414 04861 03 Tannous INH s001-240.indd 501.09.20 12:34

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InhaltVorwort1119TEIL I: KONTAKTDanke und Tschüss!Morgen des JasminsKaffeesatz lesenEin Leben für das EssenWas machen wir heute?Al-Jazeera und der Integrationsschock21252933374045TEIL II : KOMMUNIK ATIONSchickimickiSie trinkt keinen KaffeeInshallahÜbers Wetter redenWas denn, Sie wollen nicht feilschen?Je mehr du isst, desto mehr magst du michStreiten lernen mit AngelaZu BeginnIch bezahle!Komm und komm nicht47505355586165697275Inh alt414 04861 03 Tannous INH s001-240.indd 7701.09.20 12:34

TEIL III : FEIERNFreude braucht keinen TerminIntegration zu OsternWie schön, dass Du geboren bistErst die Hochzeit, dann die KinderWie die Kuh auf der frischen WeideÜbersommernStille NachtEuer Vaterland blühtTEIL IV: ALLTAGDer Zug wird kommenDie MaschineDeutschland ist meine Heimat, Bier mein GetränkHandys auf stummVon Hunden und EselnErst die Regierung fragenHabt Ihr was geplant?In Jogginghosen zur Schule?Die Foto-LizenzMan muss in die Pedale tretenGesundheit, Onkel!Wir haben die FlexibilitätPlastik am KartonTalkshows wie im WohnzimmerIch brauche ErsatzteileDeutsche Sparsamkeit lernenDienst ist DienstAls ob der Regen in uns weintBekreuzigungen im AutoBeim Licht von angezündetem 30134138141144148150153156159163166168172Inh alt414 04861 03 Tannous INH s001-240.indd 801.09.20 12:34

177TEIL V: GESELLSCH AFTRuhige LageDer Deutsche wohnt in einer BüchereiNackte TatsachenIm WaldDas Sieb schüttelnDie Magie einer deutschen UmarmungKartoffelsäcke und SparschweineGeschmacksfragenDie BewerbungsredeEin Termin mit der LiebeDer beliebteste VornameVater GoriotDas BandDen Teppich ausschüttelnMein 2217221226232Shukraan ( Danke)237Inh alt414 04861 03 Tannous INH s001-240.indd 9901.09.20 12:34

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VorwortSamer, der Syrer, und Gerd, der Deutsche, könnten unterschied-licher kaum sein. Wir sind wie Kardamom und Petersilie, unddass aus dieser ungewöhnlichen Mischung nicht nur eine tiefeFreundschaft, sondern auch einmal ein Buch werden würde,haben wir zu Beginn nicht geahnt.Zum ersten Mal begegnet sind wir uns auf einer Feier desdeutsch-französischen Partnerschaftsvereins im April 2016. Samersaß am hintersten Tisch, und die Vorsitzende des Partnerschaftsvereins erzählte Gerd, dass es sich bei ihm um einen Syrer handle,der vor kurzem nach Rotenburg zugezogen sei und der gut Französisch spreche. Gerds Französisch ist eher schlecht, aber vielleicht klappte es ja auf Englisch.Als er sich zu Samer setzte, stellte er jedoch zu seiner Freudefest, dass Samer sogar schon ein wenig Deutsch sprechen konnte.Auf die Frage, wie Samer es geschafft habe, in so kurzer Zeitschon einen Deutschkurs zu besuchen, antwortete dieser, dass ersich seine Deutschkenntnisse in den letzten Monaten im Eigenstudium und über das Internet angeeignet habe. Kurse gäbe esleider zu wenige. Gerd war beeindruckt von Samers Engagementund Wissendurst. Wir tauschten Telefonnummern aus, und soging alles los.Vorwort414 04861 03 Tannous INH s001-240.indd 111101.09.20 12:34

Wenige Wochen nach diesem Zusammentreffen spielten wirjeden Freitag gemeinsam in einer Basketballgruppe. Und, was fürinterkulturelles Lernen noch wichtiger war, tranken anschließendin der »dritten Halbzeit« noch das obligatorische Bierchen. Hier,wie auch bei vielen anderen Gelegenheiten, lernten wir einanderbesser kennen und erzählten uns unsere Lebensgeschichten.Samer stammt aus einem kleinen Dorf in den Bergen im Westen Syriens. Dort wuchs er mit zwei Brüdern und einer Schwesterauf. Sein Vater starb früh, und so musste die Mutter mit einerkleinen Witwenrente und großer Sparsamkeit die vier Kinderalleine großziehen. Nach dem Abitur erhielt er ein Stipendium,um zum Studium nach Frankreich zu gehen. An der UniversitätNancy studierte er erst Informatik, dann französische Literatur.Zurück in Syrien studierte und arbeitete er zunächst an der Universität Damaskus. Seine spätere Frau Hala lernte er jedoch in seinem Heimatdorf kennen. 2009 heirateten die beiden und bekamen zwei Töchter. Wegen des Krieges in Syrien verschlechtertensich ab 2011 die privaten wie auch die beruflichen Perspektivenfür Samer. Auch wenn weite Teile der syrischen Hauptstadt nurwenig vom Krieg betroffen waren, stellten Raketenangriffe undExplosionen eine ständige Gefahr dar. 2013 verließ Samer deshalbDamaskus und zog wieder in sein Heimatdorf, um von dort ausan der Universität Hama als Dozent für französische Literatur zuarbeiten. Aber die beruflichen und finanziellen Verhältnisse verschlechterten sich weiter. Schließlich konnten Samer und Hala fürsich und ihre Kinder keine langfristige Zukunft mehr in Syrienerkennen und entschlossen sich im Dezember 2015, nach Europaauszuwandern. Samers Bruder hatte in Deutschland Zahnmedizin studiert und arbeitete schon seit mehreren Jahren im kleinenRotenburg an der Wümme als Zahnarzt. Deshalb zog Samer mitseiner Familie nicht nach Frankreich, obwohl er fließend Französisch sprach, sondern nach Norddeutschland, wo er zunächstim Haus seines Bruders wohnen konnte. Seitdem arbeitet er alsLehrer und Dozent und versucht so, seinen Lebensunterhalt selber zu verdienen.12Vorwort414 04861 03 Tannous INH s001-240.indd 1201.09.20 12:34

Gerd hatte Wirtschaftsgeografie in Marburg und Hannover sowie an der London School of Economics studiert. Nacheinem halben Jahr in der EU-Kommission in Brüssel arbeitete erin Deutschland zunächst in der Forschung, dann als Stabsstellenleiter im Landkreis Rotenburg (Wümme). Nicht zuletzt durchein Austauschprogramm, das ihn für eine kurze Zeit nach Japanführte, begann er, sich zunehmend mit Fragen der Migration undkultureller Unterschiede zu beschäftigten. Seit 2014 ist er nebenberuflich als systemischer Coach und Teamentwickler tätig undentwickelte ein Curriculum für die Ausbildung ehrenamtlicherFlüchtlingshelfer. Im Herbst 2015 leitete Gerd eine Notunterkunftfür Flüchtlinge und war seitdem Koordinator für Flüchtlingsangelegenheiten im Landkreis Rotenburg (Wümme). Auch deshalbist er stets daran interessiert, Zuwanderer kennenzulernen.Bei unseren Treffen kreisten die Gespräche immer wieder umdie Unterschiede zwischen dem Leben in Syrien und in Deutschland. Samer versuchte, mit seiner Familie in Deutschland möglichst schnell Fuß zu fassen, und wollte die Kultur und die Menschen, mit denen er hier lebte, besser verstehen. Gerd leitete zudieser Zeit Workshops im Bereich interkulturelle Kompetenz undstellte immer wieder fest, dass es auf Seiten deutscher Ehrenamtlicher zwar einen Überschuss an Hilfsbereitschaft, ja fast schonEnthusiasmus gab, an der großen Aufgabe der Integration mitzuwirken, doch dass viele dieser Menschen bei der Arbeit mitZuwanderern auch auf Probleme und Missverständnisse trafen.Schnell entwickelte sich die Idee, gemeinsam Workshops durchzuführen, in denen wir typische Hürden im Verständnis zwischender arabischen und der deutschen Kultur thematisierten. Es bereitete uns große Freude, wenn es bei diesen Veranstaltungen gelang,einige Missverständnisse aufzulösen.Da gelungene Integration jedoch nicht nur von der Aufnahmebereitschaft des Gastlandes abhängt, sondern in erster Linie vonder Integrationsbereitschaft der Zuwanderer, dehnten wir unserAngebot auch auf französisch- und arabischsprachige Workshopsfür Zuwanderer aus sowie auf gemischte deutsch-arabische Ver an Vorwort414 04861 03 Tannous INH s001-240.indd 131301.09.20 12:34

staltungen. Durch diese Arbeit erweiterte sich noch einmal unserHorizont, hatten wir doch hier die Möglichkeit, kulturelle Unterschiede von beiden Seiten beleuchten und begreifen zu können.Während der Autofahrten zu den Workshops erzählten wir vonunseren Leben in so unterschiedlichen Kulturen und verglichenunsere Erfahrungen, Gedanken und Einstellungen zu allen möglichen Themen. Unsere Gespräche empfanden wir als so spannend und fruchtbar, dass wir uns im Frühjahr 2018 zusammensetzten und daraus erste Texte entwarfen. Auch wenn es sich beiden Texten um unser gemeinsames Werk handelte, entschlossenwir uns, sie aus der Ich-Perspektive von Samer zu schreiben, denner lieferte den größeren Teil der Inhalte. Von nun an trafen wiruns jeden Sonntagmorgen in Samers Wohnzimmer und sprachen über Begegnungen, die er in der vergangenen Woche gehabthatte, oder Dinge, die er schon länger beobachtet hatte. Darausentspannen sich intensive Gespräche, in denen Gerd Fakten undSichtweisen aus der deutschen Gesellschaft beisteuerte und wiroft zusammen zu neuen Einsichten kamen. Gerd übernahm danndie Aufgabe, die gemeinsamen Gedanken und Beobachtungen zukurzweiligen Geschichten zusammenzufassen.Da uns das Schreiben dieser Geschichten nicht nur viel Freudebereitete, sondern wir auch die Fragen, die wir in ihnen thematisierten, für viele Leser spannend fanden, boten wir dem »WeserKurier« zwanzig dieser kurzen Texte zum Abdruck an. Tatsächlicherschienen sie im Sommer 2018 als regelmäßige Kolumne in derRegionalbeilage »Wümme-Zeitung«, was uns beide sehr freute.Noch größer war unsere Freude, als sich der SPIEGEL entschloss,ab Herbst 2018 längere Texte von uns im Onlineangebot SPIEGEL zu veröffentlichen. Im ersten Jahr wurden daraus überfünfzig Ausgaben dieser Kolumne, die Woche für Woche immermehr Leser gewinnt.Dieses Buch ist die überarbeitete Sammlung dieser Texte, indenen ein Syrer in den Spiegel blickt und dabei viele Unterschiedeund Gemeinsamkeiten seiner kulturellen Prägung im Vergleichmit der deutschen Kultur erkennt. Darüber hinaus wird ein tie14Vorwort414 04861 03 Tannous INH s001-240.indd 1401.09.20 12:34

fer Einblick in das Seelenleben eines Zuwanderers gewährt, derbemüht ist, die fremde Kultur zu verstehen und sich zu integrieren, ohne dabei seine eigene kulturelle Prägung über Bord zuwerfen. Gleichzeitig halten wir dabei aber auch den Deutschenden Spiegel vor, die darin manch Eigentümlichkeiten und Besonderheiten ihrer Gesellschaft erkennen können, die sie bisher vielleicht nicht als solche wahrgenommen haben.Es ist wichtig zu betonen, dass es sich in unseren Texten ausschließlich um individuelle und subjektive Sichtweisen handelt.Sie sind nicht zwangsläufig repräsentativ für alle syrischen Einwanderer, die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommensind. Syrien ist, verglichen mit Deutschland, ein extrem heterogenes Land, sowohl mit Blick auf die Geografie und den Gegensatz von Stadt und Land als auch in Bezug auf Religionen undKonfessionen. Samer ist Akademiker, er ist Christ, er hat langein der Millionenstadt Damaskus gelebt und hatte bereits interkulturelle Erfahrungen gesammelt, als er in den Neunzigerjahrenin Frankreich studierte. Menschen aus anderen Regionen Syriens,mit anderen religiösen Prägungen oder mit einem anderen Bildungshintergrund als Samer mögen deshalb andere, nicht minderinteressante Erfahrungen in Deutschland gemacht haben als die,welche in diesem Buch geschildert sind.Viele Menschen in Deutschland setzen die syrische Kultur mitder islamischen Kultur gleich. Das jedoch ist in mehrfacher Hinsicht irreführend. Zum einen besteht die syrische Gesellschaft zuelf Prozent aus Christen und weiteren nicht-islamischen Religionen, zum anderen gäbe es ohnehin keine homogene »islamische«Kultur. Samer spricht in diesem Buch also aus syrischer beziehungsweise arabischer Perspektive und nicht aus muslimischer.Auch wenn viele kulturelle Prägungen zwischen Christen undMuslimen in Syrien gleich sind, so kann man bei Angehörigendieser Religionen zuweilen auch auf unterschiedliche Ansichtenstoßen, zum Beispiel wenn es um die Themen Gleichstellung vonMännern und Frauen, Religionsfreiheit oder um den Stellenwertder Religion insgesamt geht.Vorwort414 04861 03 Tannous INH s001-240.indd 151501.09.20 12:34

Unsere Kolumnen beschäftigen sich vor allem mit Unterschieden zwischen der deutschen und der arabischen Kultur. Warumtun wir das und betonen nicht etwa die Gemeinsamkeiten? Alswir einmal gebeten wurden, in einer norddeutschen Gemeindeeinen Workshop zu interkultureller Kompetenz zu halten, war dieVeranstaltung überschrieben mit dem Titel: »Wir sind alle gleich!«Auf Nachfrage erfuhren wir, dass der Schwerpunkt auf Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen der ins Land gekommenenarabischen und persischen Flüchtlinge und den Deutschen gelegtwerden sollte, um das Verbindende in den Vordergrund zu stellen. Damit hatten wir ein Problem und baten den Veranstalter,den Titel des Workshops zu ändern. Erst als am Ende ein Fragezeichen hinter den Titel gesetzt wurde, waren wir zufrieden.Natürlich gibt es auch viele Gemeinsamkeiten zwischen derarabischen und der deutschen Kultur, und auch die klingen indiesem Buch an. Und grundsätzlich sind Menschen zunächst einmal Individuen und nicht Angehörige einer bestimmten Kultur.Auch gilt es zu berücksichtigen, dass weder die arabische nochdie deutsche Kultur homogen und statisch sind, sondern einemständigen Wandel in der Zeit unterworfen sind und Ausnahmendie Regel bestätigen.Dennoch sind wir durch unsere Arbeit, unsere Erfahrungenund unsere zahlreichen Gespräche zu dem Schluss gekommen,dass viele Araber und Deutsche in ihren kulturellen Prägungenzunächst einmal eher gegensätzlich sind. Das heißt nicht, dassman nicht gemeinsam in einem Land leben könnte. Aber es können eben viele Missverständnisse, Kommunikationsproblemeund Vorurteile im Zusammenleben zwischen Arabern und Deutschen lauern. Je mehr sich beide Seiten möglicher kulturellerUnterschiede als Ursachen bewusst sind, desto besser kann manaufeinander zugehen und desto leichter kann die gesellschaftliche Integration gelingen. Oder um es mit dem algerischen AutorKamel Daoud zu sagen: »Kulturelle Unterschiede zu leugnen istkeine Lösung. Sie bewusst ins Auge zu fassen, ist der Beginn einerLösung.«16Vorwort414 04861 03 Tannous INH s001-240.indd 1601.09.20 12:34

Unser Buch möchte kulturelle Unterschiede zwischen arabischen Zuwanderern und Deutschen weder überbetonen nochverniedlichen, sondern einladen zum Perspektivwechsel, zuVerständnis sowie zur Reflektion über die fremde, aber auchdie eigene Kultur. Vor allem möchten wir dazu ermuntern, diegroße Aufgabe der gesellschaftlichen Integration von beiden Seiten beherzt anzupacken: als Deutsche und als Zuwanderer. Beidekönnen dabei nur gewinnen.Vorwort414 04861 03 Tannous INH s001-240.indd 171701.09.20 12:34

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Danke und Tschüss!Was ist der Unterschied zwischen Abendland und Morgenland,zwischen Ost und West, wenn sie sich in Deutschland treffen?Diese Frage beschäftigt mich und meine Frau fast täglich. Siebeschäftigt in diesen Monaten, in denen wir diese Texte schreiben, ganz Deutschland.Das syrische Dorf, aus dem meine Frau und ich kommen, hatzwei Ortsteile: Meine Frau stammt aus dem Ostteil, ich aus demWestteil. Der Ostteil ist die »Altstadt«, mit engen Gassen, vielenalten Menschen, die nachmittags auf dem Bordstein sitzen undtratschen, bevor sie früh ins Bett gehen. Der Westteil dagegen besteht aus Neubauten und beherbergt viele Bars und Restaurants.Bis heute frotzeln wir über unsere unterschiedlichen Prägungen, nennen uns gegenseitig »altmodische Ostdörflerin« oder»hochnäsiger Westdörfler«. Dabei liegen zwischen ihrem Elternhaus und meinem nur 300 Meter.Zwischen Deutschland und Syrien liegen ungefähr 3500 Kilometer.Zu Beginn unserer Reise nach Deutschland streckte sich unsdas Abendland in Form von zwei Schuhen entgegen. Es warnachts, und der Flughafen von Beirut war sehr voll. Wir hattendas Glück, dass wir Syrien mit dem Flugzeug entkommen konnten und nicht wie viele unserer Landsleute über die gefährlicheDank e und Tschüss!414 04861 03 Tannous INH s001-240.indd 212101.09.20 12:34

Mittelmeerroute nach Europa reisen mussten. Nun warteten wirin der Abflughalle, und uns gegenüber saß ein Mann, der seineBeine ausgestreckt auf seine Koffer hochgelegt hatte. Seine Füßeberührten fast die Nasen meiner Kinder. Er war eindeutig Europäer, und er las eine Zeitung.Ich wollte ihn ansprechen und bitten, seine Schuhe aus unseren Gesichtern zu nehmen. Aber meine Frau hielt mich davon ab.Sie sagte: »Wir reisen nach Europa. Für Europäer ist ihre Freiheitsehr wichtig! Sie können machen, was sie wollen.« Ich war sehrunsicher, ob und wie ich den Herrn ansprechen sollte. Welche Artvon Kommunikation würde mich wohl in Deutschland erwarten?Noch immer gerate ich in Situationen, in denen ich unsicherbin, wie ich Menschen ansprechen soll. Zum Beispiel, wennich im Zug sitze: Deutsche lesen im Zug fast immer ein Buchoder eine Zeitung oder tippen am Handy. Sie richten ihre Aufmerksamkeit dabei auf Menschen, die weit weg oder schon totsind, aber ihren Sitznachbarn versuchen sie, so gut wie möglichzu ignorieren. Ich würde gerne mit ihnen sprechen, nur so kannich meine Deutschkenntnisse trainieren. Aber wie kann ich mitihnen in Kontakt kommen, ohne sie zu stören?Mit 800 Stundenkilometern sind wir aus dem umkämpften,aber geschwätzigen und leutseligen Syrien nach Deutschlandgeflogen. Bei der Landung bremste unser Flugzeug stark ab,genau wie die Kommunikation mit unseren Mitmenschen.Nachdem wir in Deutschland angekommen waren, habe ichversucht, im Eigenstudium möglichst schnell Deutsch zu lernen.Nach ein paar Wochen klingelte einmal der Postbote an unsererTür und gab ein Paket für unsere Nachbarn ab. Ich sagte zu meiner Frau: »Das ist die Gelegenheit, endlich meine ersten Deutschkenntnisse auszuprobieren!« Einen ganzen Tag lang bereitete ichmich auf den Moment vor, wenn mein Nachbar das Paket abholen würde. Ich wollte ihn willkommen heißen, uns vorstellen, einbisschen Smalltalk machen und ihn auf einen Kaffee einladen.Wie es unter Arabern Brauch ist. Ich habe dafür ganze Sätze auswendig gelernt.22Teil I: Kontakt414 04861 03 Tannous INH s001-240.indd 2201.09.20 12:34

Abends um acht klingelte es endlich an der Tür. Ich sagte zumeiner Frau: »Jetzt wirst Du sehen, wie ich eine Unterhaltung aufDeutsch mit meinem Nachbarn führe.«Ich öffnete die Tür. Der Nachbar hielt mir den gelben Abholschein vor das Gesicht.Ich sagte: »Hallo.«Er zeigte auf das Paket, ich gab es ihm.Er sagte: »Danke und Tschüss.«Ich schloss die Tür.Noch mehrere Sekunden stand ich auf der Fußmatte und trauerte meinem nicht geführten Gespräch hinterher. Dann ging ichins Wohnzimmer zu meiner Frau. Sie hat mich ausgelacht. Ichsagte: »Ist das Deutschland?«Später habe ich versucht, diese Situation zu begreifen. Ich habemir gesagt, dass der Nachbar wahrscheinlich keine Zeit hatte undspät dran war. Hatte ich nicht gerade gelernt, wie wichtig Zeitplanung für die Deutschen ist? Vielleicht braucht er für einen kurzen Plausch mit seinem neuen Nachbarn einen Termin in seinemKalender?Meine Frau meinte: »Erwartest Du etwa, dass unser Nachbardich wie die Araber mit blumigen Worten willkommen heißt?›Deine Anwesenheit erleuchtet das Viertel und verschafft unsmehr Ehre?‹ Du bist in Deutschland, Sie übertreiben nicht so wiewir.« Ich fragte meine Frau, woher sie das wisse. Sie sagte: »Ichkomme aus dem östlichen Dorfteil, mein Schatz, und das erkläreich dir das nächste Mal.«Viele arabische Zuwanderer denken mit Blick auf die wortkargen Deutschen, die leeren Bürgersteige und ernsten Mienen derMenschen: »Deutsche haben kein Sozialleben!« Inzwischen weißich, dass das nicht stimmt. Aber die sozialen Kontakte laufenhier anders: geordneter, geplanter und infolge von Einladungen.Dafür sind Freundschaften manchmal umso fester.Schon wenige Wochen nachdem mein Nachbar das Paketabgeholt hatte, begann ich, in der Altherren-Gruppe von GerdBasketball zu spielen. Sie nennen das »Daddel-Gruppe«. Als Nils,Dank e und Tschüss!414 04861 03 Tannous INH s001-240.indd 232301.09.20 12:34

einer meiner Mitspieler, zum ersten Mal Vater geworden war, luder uns abends in eine Dorfkneipe ein, um seinen Nachwuchs zufeiern. In Norddeutschland heißt das »Baby pinkeln«. Wir fuhren alle gemeinsam fünf Kilometer mit dem Fahrrad in das Dorfund hatten einen tollen Abend. Nils bezahlte alle Getränke unddas Essen. Ich war sehr beeindruckt, nicht nur von seiner Gastfreundschaft, sondern auch davon, dass wir alle den weiten Wegmit dem Rad fuhren, nur um mit ihm die Geburt seines Kindeszu feiern. In Syrien hatte ich dergleichen nicht erlebt. Deutschehaben also sehr wohl ein Sozialleben.24Teil I: Kontakt414 04861 03 Tannous INH s001-240.indd 2401.09.20 12:34

für Flüchtlinge und war seitdem Koordinator für Flüchtlingsan-gelegenheiten im Landkreis Rotenburg (Wümme). Auch deshalb ist er stets daran interessiert, Zuwanderer kennenzulernen. Bei unseren Treffen kreisten die Gespräche immer wieder um die Untersc