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SeminarzeitungOstern 2015Ausgabe 15hinter dem NichtsQualitäten der MauerSiobhÁn PorterU n g e b o rg e n i n d e r E n t h ü l l u n g –d i e P fo r t e n d e r L e e reMat h i j s va n A l s t e i nDer Rand der SehnsuchtTa b e a Hat t e n h au e r

Es ist ein ganzzartes BerührenDas Auge bohrt den Blickin scheinbare SicherheitOberfläche spiegeltdas NichtsEs ist ein ganz zartes BerührenIm NichtsLichtMariska Hunfeld-Jue

3EditorialÜber den Tod des Hamburger Dichters Matthias Claudius, dessen 200. Todestag wir in diesem Jahr feiern, wird berichtet, er habe sich bemüht, geistigwach das Wesen des Augenblicks zu erfassen, in dem dieSeele sich auf so rätselhafte Weise vom Körper trennt.»Mein ganzes Leben habe ich auf diesen Augenblick studiert, aber noch begreife ich so wenig wie in den gesundesten Tagen, wie es damit gehen wird.« Er war überzeugt,dass der Mensch kurz vor dem endgültigen Abschied vonder Erde einen hellen Blick in jenes Leben tun könne, indas er hinübergehen werde.Einen solchen Blick in die »Anderwelt« würden wir auchgern im Leben schon tun können. Manchmal wird die Türein wenig aufgetan, wenn uns der Blick eines kleinen Kindes trifft oder wenn für einen auf den Tod zugehendenMenschen die Grenze durchlässig wird und ihm die schonVerstorbenen real anwesend sind. Das sind geschenkteAugenblicke. Worauf muss man aber studieren, wenn manSpezialist auf diesem Gebiet werden möchte? In der letztjährigen Seminarzeitung hatten wir unseren Blick daraufgelenkt, dass Vieles von dem Gewordenen vergehen muss,ehe Neues entstehen kann. Man streift seine alten Rollenab so gut es geht, schmilzt Fähigkeiten um, so dass siein den Dienst der Gemeinschaft treten können und verabschiedet manche lieb gewordene Vorstellung, wie das Leben sei. Immer wieder kommt man an einen toten Punktund das ist gut so, denn in ihm konzentriert sich das Leben auf das Wesentliche. Diese Tod-Punkte sind zugleichGeburtserlebnisse. Nun fragen wir uns: Was kommt unsentgegen in den Augenblicken, in denen wir nichts mehrsind? Was liegt hinter dem Nichts?Zwei Kurse dieses Semesters gaben die Möglichkeit,sich mit den himmlischen Hierarchien zu beschäftigenund wir haben versucht, uns fragend hinein zu fühlen:Wie kommen wir in Beziehung? Wie werden wir aus deranderen Welt gesehen? Welche Schöpfungs- und Gestaltungsprinzipien herrschen dort und welche Formen sinddie entsprechenden für das Erdendasein?Wenn wir selbst Schöpfer werden wollen, dann müssen wir dieses Reich des »Noch-Nicht-Gewordenen« aufsuchen und uns empfänglich machen für das, was von dortdurch uns ins Sein kommen will.Gisela Hübner

4InhaltImpressumRedaktion Tabea Hattenhauer, GiselaHübner, Ulrich Meier, Doris Quirling Herausgeber Die Studenten Auflage 2.500 Exemplare V.i.S.d.P. TabeaHattenhauer – jeder Autor ist für seinen Artikel verantwortlich Fotos Tabea Hattenhauer, Mariska HunfeldJue, Ansgar Winkler u.a. Layout Heidemarie Ehlke Anschrift Priesterseminar Hamburg Mittelweg 13 D-20148Hamburg Telefon 040 444054-0 Fax 040 444054-20 Email [email protected] Website www.priesterseminar-hamburg.de Spendenkonten Postbank Hamburg Kto. 021 588 200 BLZ 200 10020 IBAN DE08 2001 0020 0021 588200 BIC PBNKDEFF für Überweisungenaus der Schweiz Die Christengemeinschaft, Landesvereingung Schweiz,Zürich Postcheckkonto: 80-55643-5Zahlungszweck: Priesterseminar Hamburg Spendenbescheinigungen werden erstellt.Bild rechts: Fensterspiegelung in derJohannes-KircheDie übrigen Bilder (auch das Titelbild) zeigen Arbeiten der Studierendenaus der Kunstwoche mit Beate MeuthEs ist ein ganz zartes Berühren (Bild & Gedicht) – Mariska Hunfeld-JueEditorial – Gisela HübnerInhaltsverzeichnisSternenkinder – Gisela HübnerPassion – Lina BrandtHinter dem Nichts – Ansgar WinklerQualitäten der Mauer – Siobhán PorterDer Rand der Sehnsucht – Tabea HattenhauerUngeborgen in der Enthüllung – Mathijs van AlsteinNichts – ein schöpferischer Aufbruch – Christian SchefflerÄndert sich das Lernen – Bernhard OswaldAuf Elbe – Gerrit BalonierWas, bitte schön, macht eine Ärztin – Carolin OttJahresabschluss – Christian SchefflerSeminar und Gemeinde – Christian SchefflerDank an Wolfgang Schad – Ulrich MeierWerbung: SfB-Treffen 30.4./1.5. und Sommer-Studien-Tage 2015 2 3 4 5 6 7 8 9 10 13 14 15 16 17 17 18 19

5SternenkinderGisela HübnerZarte Klänge eines Windspiels,buntes Gewimmel von Bändern,Schmetterlingen und Windrädchen an langen Stäben, ein meerblausich hindurchschlängelnder Pfad: Daswaren unerwartete Friedhofseindrücke. Der »Garten der Sternenkinder«auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhofin Berlin-Schöneberg ist ein gesonderter Ort für die Grabstätten der Kinder, deren Leben schon zu Ende ging,bevor es auf der Erde gelebt werdenkonnte. Hier findet die Trauer derEltern und Geschwister einen besonderen Platz, denn es ist schwer, voneinem Menschen Abschied zu nehmen, ehe man ihn recht gekannt hat.Die Leichte, die dem bewegten undklingenden Farbenspiel entsprang,ließ für Augenblicke sogar die Kälte und den Regen vergessen, die unsbeim Gang über den Friedhof unterdie Mäntel und in die Glieder gekrochen waren. Dem winzigen Sargin den Armen eines unserer Mitstudenten folgend, waren wir tief ergriffen vom Bild des Vaters mit seinemtoten Kind und mit den Herzen ganzihm und seiner Familie zugewandt.An der Grabstelle erwartete unsein Korb voller Rosenblütenblätter inweiß, orange, gelb und rot. In ihrerVergänglichkeit waren sie so überirdisch schön, dass sie eine Brücke zuschaffen vermochten in die jensei-tige Welt. Später bedeckten sie denSarg ganz und gar, bevor die schwereErde auf ihm lastete.Wir wollten das Begräbnisritual(neben den Klängen einer einzelnenTrompete) mit Gesang begleiten undich war mir gar nicht sicher, wie dasmit Tränen im Augenwinkel gehenwürde. Doch es gab eine unverhoffte Hilfe.Einige Wochen zuvor hatten uns ineinem Kurs mit Johannes Lauten dieSakramente im Umkreis des Todes beschäftigt und dabei waren auch dieWorte des Kinderbegräbnisrituals erklungen. Die Würde und Ruhe, in derdas geschehen war, taten sich nunauf als ein Raum, in den ich erinnernd eintreten konnte und frei warvon äußerer Kälte und innerer Rührung. Solange die Worte aufs Neue erklangen, gab es einen fortwährendenWechsel zwischen den Welten: zitternd vor Kälte und die äußeren Widrigkeiten im Blick habend – und wiederum ganz frei in der Welt, in diedas verstorbene Kind sich längst geweitet hatte und aus der heraus eswie ein schützender Geist um die Familie war.Später, nach einem aufwärmendenKakao im Friedhofscafé, gingen wirnoch einmal zu zweit mit der 10-jährigen Schwester des Kindes zumGrab. Das Licht in der aufgestelltenGiesela Hübner , 3. SemesterLaterne brannte und fügte der Gemeinschaft der Kindergräber seinen eigenen Aspekt hinzu. Christrosenund Schneeglöckchen warten auf dierechte Zeit zum Einpflanzen und dasWindrad dreht sich fröhlich im Wind.Es geht beinahe Heiterkeit von diesem Ort aus. Zum Abschied sangenwir noch einmal. Diesmal wieder mitganz erdenfesten Stimmen.

Passionschwarz-dunkle Passionvollständiges Nichtswiedurchdringen?klagend liegt die Seeleam großen warmen Herzen der ErdeLina Brandt

7Hinter demNichtsAnsgar WinklerIn jungen Jahren nahm ich an einem Zen-Meditationskurs teil. Unter Anleitung nahmen wir uns vor,über das Nichts zu meditieren. Es war eine guteErfahrung, einmal gegenstandslos zu meditieren. Interessant war die Abschlussrunde, in der die Teilnehmendenvon ihren Erfahrungen erzählen konnten.Eine der Rückmeldungen habe ich bis heute in lebendiger Erinnerung: »Das war nichts mit dem Nichts«. Die seFormulierung ist sehr aufschlussreich, lässt sie doch unschwer erkennen, dass es zwei Bedeutungen des Begriffs»Nichts« gibt: Einmal im Sinne einer Verneinung; z. B.nicht schön, nicht angenehm, nicht akzeptabel. Oder esbezeichnet eine Realität, in der etwas oder alles fehlt,einen »Leer-Raum«. Meine Frage lautet im Sinne des Themas dieser Ausgabe: Was wartet hinter dem Nichts?Ein verwandeltes SeinWenn der Mensch durch ein Nichts – durch einen Nullpunkt, eine Krise, eine Trennung, eine schwere Krankheit – gehen muss, dann macht das etwas mit ihm. EtwasGrundlegendes in ihm hat die Möglichkeit zur Verwandlung. Es ist ein Nichts, aber es macht etwas mit den Menschen. Wie der Sauerteig den ganzen Teig verwandelt,arbeitet jenes »Nichts« das Geistig-Seelische des Betreffenden durch. Ein solches Nichts ist eben nicht nichts; esträgt den Anstoß zur Verwandlung in sich. Und es kannein verwandeltes Sein erstehen.Eine Neugeburt aus dem GeisteDas jüdische Volk stand zur Zeitenwende vor dem Nichts:die Last der übergroßen Anzahl von Gesetzen; keine erlebbare Zukunftsperspektive; die Kluft zwischen Gesetzes erfüllung und Gotteserfahrung. Gemäß dem Thema dieserAusgabe ließe sich die Frage des Nikodemus an Chris tus im sogenannten Nachtgespräch umformulieren: Wiekomme ich durch das Nichts? Die Antwort des Christus:»Ja, ich sage dir. Wer nicht aus Weltenhöhen neugeborenwird, kann nicht das Reich Gottes schauen« (Joh 3,3).Eine neue Geburt zu einem neuen Leben, das ist nichtbloß eine Schwerpunktverlagerung im Leben, sondern esist existentiell neu. Das Geistige des Menschen wird neu.Es ist so unvorstellbar, wie für einen Blindgeborenen dasTageslicht unvorstellbar sein muss. Jene Verwandlung bedarf einer größeren Entschlusskraft als die im erstgenannten Bereich. Eine starke Hinneigung zum Geistigen ist nötig – ein starker Wille zum Geistigen.Ein immer wieder neues OsternDas Ei ist ein wunderschönes Symbol für Ostern: DieNeugeburt klopft zuerst an die Schale. Dann durchbrichtsie die Schale. Sie erblickt das Licht und erlebt neue, schierunbegrenzte Räume. Es gibt keinen Durchbruch ohne existenziellen Krafteinsatz – wie auch kein Ostern ohne Passion, ohne Schmerz und Verlassenheit möglich ist. Wiederum ist es ein Weg durch ein unermessliches Nichts.Es erscheint wie eine dreifache Steigerung: Verwandeltes Sein führt zur Neugeburt aus dem Geiste und diese Neugeburt führt zu Ostern. Mit Ostern stehen wir vordem zentralen Mysterium der Christen. Erst muss Christus– und jeder Mensch, der ihm nachfolgen will – durch diePassion, durch das Nichts, durch die Todesüberwindung.Dann erst wird Ostern möglich.Emil Bock schrieb: »Das Wort: ›Ich lebe, doch nicht ich,der Christus lebt in mir‹ ist der Schlüssel zum Ostergeheimnis.« In diesem Sinne dürfen wir hinter dem Nichtsimmer wieder neu Christus und Ostern erhoffen und mitGewissheit erwarten.

8Qualitäten der MauerSiobhán PorterEin Gemälde zeigt den Paradiesgarten. Maria sitzt im Kreisevon Engeln und Kindern. Allesstrahlt Ruhe aus in diesem hellen,blumenreichen, fruchtbaren Garten.Den Garten umschließt eine starkeMauer mit Türmen; jenseits der Mauer ist es dunkel und leer. Seit derVertreibung von Adam und Eva ausdem Paradies wachen die Cherubimmit dem Flammenschwert an dieserSchwelle.Eine Mauer trennt Innen und Außen, eine Mauer schützt, eine Mauerkann trennen. Die Berliner Mauer, dieBelfaster „Friedensmauer“, die „Klagemauer“, der Hadrianswall. Als derKnabe Jesus im Tempel war, war erüberrascht, dass seine Eltern sich umihn sorgten. Er fühlte sich geborgeninnerhalb der Mauern in seines Vaters Haus.Wir schaffen eine schützende Mauer um unsere Kirche. Eine zweite Mauer, der Altar und die Kerzen, steht ander Schwelle zwischen geistiger undirdischer Welt. Ein Ort, an dem wirinnehalten und uns unsere Worteund Taten bewusst machen. Wo wirfür Frieden und Heilung beten. BeimVerbrennen des Weihrauchs entstehteinen dritte, durchlässige Wand; dieWorte unseres Gebets um Läuterungwerden mit dem Rauch emporgetragen. Wir beten: „ eine Mauerhindere unsere Irrungen um uns zuströmen“. In diesem Augenblick der Opferung bitten wir darum, dass unsere Schwächen und unser Zerbrechlichsein gehalten werden und betenum Christi Gnade in allem, was unsals einzelne Wesen herausfordert.Wir brauchen die Fähigkeit, dieseMauer oder Grenze in unserem Inneren zu tragen. Mit der Hilfe Christistreben wir danach, unser Bewusstsein zu schulen und unsere wahre Bestimmung zu finden. In diesem Augenblick, wenn wir vor der geistigenWelt stehen, bitten wir darum, dassunsere Gebete an diesem Tag, in diesem Moment, hinaufgehoben werdenmögen durch den Schleier des Weihrauchs.Siobhán Porter, 3. SemesterHeike Britsch , 5. SemesterLina Brandt, SonderstudiumChristine MaletiusAnsgar Winkler , 1. SemesterMariska Hunfeld-Jue, 3. Semester

9Der Randder SehnsuchtTabea HattenhauerDer Gottesgeist ist bei uns,wenn wir ihn suchen – daserfahren schon die Kinder inder Sonntagshandlung. Sie werdenangeregt, sich innerlich auf den Wegzu machen, geleitet von einem tiefenVertrauen. Noch erblicken sie Gott inden Mitmenschen, in Tier, Pflanzeund Stein und sie fühlen, dass GottesSein sie in Sternen und Wolken schützend umgibt. Im Zugehen auf dasJugendalter beginnt das Denken diese Ahnung zu hinterfragen: Hat derMensch einen Engel, auch wenn ernicht an ihn glaubt? Um das prüfund beweisbare Wissen tut sich einNichts auf, wie früher um die Landkarte der erforschten Welt, an dessen Grenze der Verstand anbrandet.Doch wir haben ein Geschenk mit aufden Erdenweg bekommen, das unshilft, diese Kluft zu überbrücken: dieSehnsucht. Wie die Jünger auf demWeg nach Emmaus, können wir unserHerz zuweilen brennen fühlen. Dannbeginnt der empfindende Teil unseresWesens zum Wahrnehmungsorgan zuwerden für das, was sich hinter demSchleier befindet, was uns umgibtund gleichzeitig in unserem tiefstenInneren wirkt.Als Studenten am Priesterseminar haben wir die Möglichkeit, täglich die Menschenweihehandlung zufeiern, uns in diesen Raum auf derSchwelle einzuleben, der durch dieTätigkeit des Priesters am Altar inbeide Welten geöffnet ist. Wir erleben einen Strom von gegenseitigemEmpfangen und Hingeben, der die Ahnung von einer geistigen Welt stär-ken kann. Entscheidend ist, dass zudem Sehen mit den leiblichen Augendas Schauen der Seelenaugen ganzanfänglich hinzutritt. Der Wortlautder Menschenweihehandlung machtdeutlich, dass uns dies möglich ist.Ein weiterer Erlebnisraum für diese Sphäre ist die Nacht, in der einTeil unseres Wesens die Schwelle unserer physisch wahrnehmbaren Weltüberschreitet. Nur allzu oft habenwir am Morgen jedoch keine Erinnerung mehr daran. Im künstlerischenKurs mit Beate Meuth wurden wir angeregt, ganz konkrete Fragen mit indie Nacht zu nehmen. Ich war tiefberührt von den Antworten, die inForm von Traumbildern und Wortendas Aufwachen überdauerten, sobaldich auf diesen Moment des Übergangsmit größerer Ruhe und Aufmerksamkeit achtete.Ein Gedicht von Rainer Maria Rilke,das mich seit der Schulzeit begleitet,kleidet meine Empfindung in Worte:GOTT spricht zu jedem nur, eh er ihnmacht,dann geht er schweigend mit ihm ausder Nacht.Aber die Worte, eh jeder beginnt,diese wolkigen Worte, sind:Von deinen Sinnen hinaus gesandt,geh bis an deiner Sehnsucht Rand;gib mir Gewand.Hinter den Dingen wachse als Brand,dass ihre Schatten, ausgespannt,immer mich ganz bedecken. Tabea Hattenhauer, 3. SemesterBei der künstlerischen Umsetzungim Kurs wurde einmal mehr deutlich,wie in der spontanen, schöpferischenTätigkeit all die Themen zusammenfließen, die sich im Laufe der Monatein mir angereichert und mit meineneigenen Fragen und Anliegen verbunden haben. Durch die Freiheit, einObjekt nicht eindeutig benennen zumüssen, kann das Gestaltete gleichzeitig ein Herz, eine Schale und derAusdruck für Zentrum und Peripheriesein. Und indem ich all die Eindrückedes Semesters in meinem Herzen verbinde und bewege, bekomme ich einen neuen Blick auf meine Umgebungund auf mich in diesem Umkreis. Alte Ängste und Wahrnehmungsmusterbeginnen sich aufzulösen und icherfahre am eigenen Leibe, dass dasNichts ein Nadelöhr ist, durch dasich hindurchsterben muss, um hinterden Schatten dem Weltengrund neuzu begegnen.

10Ungeborgen in der Enthüllung –Die Pforten der LeereMathijs van Alstein, Priester in Zeist, NLVor zehn Jahren überschwemmte eine Flutwelle desIndischen Ozeans die Küste Indonesiens. Seither istdas japanische Wort hierfür – Tsunami – weltweitbekannt. Diese Naturkatastrophe gilt seitdem als eineder schlimmsten überhaupt. Das Erdbeben, das ihr vorausging, war das drittschwerste, das jemals gemessen wurde;die Verwüstung wurde in den Nachrichten als »apokalyptisch« bezeichnet. Das Wort »Tsunami« und das, wofüres steht – eine alles überwältigende unabsehbare Wassermasse – lässt sich schlecht als Bild gebrauchen. Vergleiche werden immerzu hinken. Dennoch trägt das Phänomen der Flutwelle etwas in sich, wodurch es zu Rechtin Zusammenhang mit der Apokalypse gebracht wird. DieBewegungskraft, die eine Flutwelle entwickelt, gibt nämlich etwas davon preis, wie eine Überrumpelung entsteht:Bevor die Flutwelle sich der Küste nähert, zieht sie dasganze Wasser zu sich. Die Welle nährt sich aus der Wassermasse, die sie vor sich hat, weniger aus der Wassermassein ihrem Rücken. An der Küste zieht sich die Wasserkante plötzlich zurück – mit einer dramatischen Geschwindigkeit, die Unheil verkündet. Der Flut geht eine rasendschnelle Ebbe voraus. Das gesamte Wasser wird zurückgesogen, um bald darauf brüllend und mit zerstörerischerMacht zurückzukehren. Die Dynamik des Leergesogenwerdens, um bald darauf überrumpelt zu werden, bleibtnicht nur der Flutwelle vorbehalten. Es ist auch die einerAngstattacke. Wer mit der Angst vertraut ist, weiß das.In der Angst fühlen wir zunächst und vor allem ein Leerströmen. Wir haben keinen Halt mehr, weder in uns, nochin der Welt. Der Boden scheint unter uns wegzurutschen.Wie ein Sack, aus dem alle Luft abgelassen wird, schlägtdie Beklemmung zu. Exakt in dieser Beengung werden wirübermannt von etwas, das wir nicht deuten können: Raumund Zeit überschlagen sich über uns und verschlingenuns. Wer aus Angst nicht aufschreit, den hat sie bereitsgelähmt; ein Meer von Wirklichkeit hat ihn bereits überspült. Angst ist ein Ertrinken in der Fülle dessen, was ist.Es ist kein Zufall, dass die Angst als Thema erst spätin unserer Geschichte auftaucht. In früheren Zeiten kames häufig darauf an, tapfer zu sein: auf dem Schlachtfeld Auge in Auge mit dem Feind oder in den TempelnAuge in Auge mit den Göttern. Mut gab es schon immerund die Furcht auch. Angst ist allerdings etwas anderes,als furchtsam zu sein. Die Existentialisten, die im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts die Angst als Ausdruckeines Urzustandes unseres Menschseins artikulierten, haben mit Recht darauf hingewiesen, dass Angst und Furchtzwei sehr unterschiedliche Phänomene sind. Die Furchtist immer auf etwas gerichtet, das unmittelbar vorhanden ist: ein Löwe, ein Messer, ein Gewehr. Angst ist keineFurcht. Im Gegensatz zur Furcht ist die Angst ungerichtet; Angst ist immer Angst vor dem Unbestimmten, demVagen und Abwesenden. Das ist keine Nebensächlichkeit.Dass sich die Angst insbesondere auf »nichts« richtet, istvielsagend. Dieses »Nichts« ist nämlich eine Leere, diegerade in der Angst erfahrbar wird: Die Angst, so legtMartin Heidegger dar, führt uns hinein in das Wesen desNichts. »Dass die Angst das Nichts enthüllt«, so schreibter, »bestätigt der Mensch selbst unmittelbar dann, wenndie Angst gewichen ist. In der Helle des Blickes, den diefrische Erinnerung trägt, müssen wir sagen: wovor undworum wir uns ängsteten, war ›eigentlich‹ – nichts. Inder Tat: das Nichts selbst – als solches – war da.«1 In derAngst fürchten wir uns nicht vor etwas, sondern stehen imGegenteil vor der vollkommenen Abwesenheit von etwas.Die Leere des Seins starrt uns an. Diese Erfahrung, vordem Nichts zu stehen, oder vielmehr: vom Nichts aufgenommen und dadurch verschlungen zu werden, ist keineErfahrung des Menschen aus der Antike oder des Mittelalters. Das griechische Wort »Kosmos« hat einen Beiklangvon Fülle und harmonischer Vollkommenheit, in der man1 Martin Heidegger, Wegmarken, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main,1996, Seite 112

11nach dem Nichts lange suchen müsste. Erst im späten Mittelalter, das den Übergang in eine andere Epoche – nämlich die Moderne – markiert, stießen die Mystiker auf »etwas«, das sie »Nichts« nennen.2 In diesem Bewusstseinsraum erhält die Angst ihren nährenden Untergrund. Angstist also ein Phänomen, das erst in einer Zeit auftretenkann, in der der Mensch selbstbewusst wird: eine Zeit, inder Götter und Engel sich zurückziehen und sich die Weltentschiedener enthüllt; eine Zeit in der Tat, die im Zeichen der Apokalypse steht. Dass wir in der Angst in zuviel Wirklichkeit ertrinken und dass die Angst gleichzeitigdas Nichts offenbart, scheint ein Widerspruch zu sein, istes aber nicht. Für ein tieferes Erleben wird deutlich, dasssich die Welt erst wirklich zeigt im Durchgang durch dasNichts – und eben auch durch die Angst, die damit einhergeht. Das Nichts, die große Leere, ist die Pforte zum Sein.Um diese Pforte zum Sein geht es in der Apokalypse.Apokalypse bedeutet nicht nur, vor schrecklichen Bildernzu stehen, sondern auch und vor allem die Enthüllungdessen, was zutiefst ist. Das Nichts ist der Vorhof vordieser Enthüllung. Die Abgründe des 20. Jahrhunderts,die nicht nur Mystiker, sondern auch ganze Bevölkerungsgruppen vor das Nichts stellten, sind allein hieraus zu begreifen. Im 19. Jahrhundert propagierte Friedrich Nietzsche die »Umwertung aller Werte«: Worauf die Menschheitjahrhundertelang vertraut hatte – ein in sich ruhendesGanzes aus jüdisch-christlichen Basisprinzipien – sollte,so schrieb er, sich als Riese auf Lehmfüßen erweisen. DerEinsturz dieses Wertesystems lag auf der Hand und dieMenschheit lernte unvermeidlich die Tiefen des Nihilismus kennen. Gott ist tot. Wir fallen fortwährend nachhinten, seitwärts, vorwärts, überallhin; wir irren durchein unendliches Nichts umher, so schrieb Nietzsche.3 Unrecht hat er nicht bekommen. Das moralische Referenzkader verschwand tatsächlich, und das mit einer Geschwindigkeit, die er selbst vermutlich nicht für möglich gehalten hätte. Vierzehn Jahre nach seinem Tod war Europavon Leichen übersät. Ein paar Jahrzehnte später hatteder Nihilismus dermaßen an Kraft und Fahrt zugenommen,dass die industrielle Auslöschung ganzer Völker möglichwurde. Die moderne Menschheit schaute in den Abgrundund lernte, was ihr Prophet 60 Jahre zuvor schon wusste:»Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nichtdabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einenAbgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.«4Auch wenn der Vergleich mit dem Tsunami meist hinkt,scheint er in diesem Fall nicht überzogen zu sein. Das 20.Jahrhundert rollte wie eine Flutwelle, die sich aus demspeiste, das sie leersog. Die Menschheit lag brach und wurde überspült. Das Schicksal nahm seinen Lauf. In gewisserHinsicht hat sich das bis heute nicht geändert. Wer kannsagen, dass diese Geschehnisse des letzten Jahrhundertszu einem Ende gekommen sind? Wie einen halb bewussten,dunklen Rest schleppen wir die letzten hundert Jahre mituns mit. Die Geschichte geht weiter. Denn es ist eine 3 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Absatz 1252 Meister Eckhart, Predigt 71, Manesse Verlag , Zürich, 2000, Seite 2874 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Absatz146

Illusion, zu glauben, dass die Kräfte, die das vorige Jahrhundert verunstaltet haben, inzwischen versunken seien.Die Apokalypse ist nicht abgeschlossen. Die Psychiatrisierung der Angst – wenn auch in einigen Fällen unzweifelhaft berechtigt – will dies nicht für wahr halten. Der Normentspricht, wer fit und fröhlich ist. Wer davon abweicht,muss Medikamente verabreicht bekommen. Eine falscheGlücksideologie sorgt dafür, dass die Angst von ihrer Basisfunktion entfernt wird: Organ zu sein nämlich für dieEndlosigkeit der Leere. Hier dürfen wir uns nichts vormachen. Wir verpassen etwas, wenn wir uns selbst blind machen für die Tatsache, dass Angst, in all ihrer Dunkelheitund Widerlichkeit, gleichzeitig Zugang gewährt zu etwasanderem. Es darf nicht soweit kommen, dass mit der Angstauch die Apokalypse psychiatrisiert wird! Wir leben ineiner Zeit großer und fundamentaler Seinsenthüllungen.Dazu gehört der Blick in den Abgrund. Das ist ein Drama,aber auch eine Chance, die gerade in der Angst ergriffenwerden kann. Die Finsternis will erkannt und erkundetwerden. Nur so lichtet sich die Welt in ihrer Tiefe auf. BeiHeidegger heißt es daher: »Das Sichängsten erschließt ursprünglich und direkt die Welt als Welt.«5 Das heißt, dieAngst schließt uns nicht ab, sondern öffnet uns gerade– und zwar für etwas, wovor wir nur allzu gerne fliehen:Den Abgrund, auf dem unsere Welt tanzt. Wenn wir dasWort »Welt« in diesem Zitat in seiner antiken Bedeutunganschauen – das heißt: als Kosmos – dann erschließt dieAngst uns also nichts weniger als das Weltall selbst. Dasscheint merkwürdig, aber warum sollte es nicht so sein?Dass die Angst unangenehm ist, darf nicht als Argumentgegen sie gebraucht werden. Wenn es Menschheitsaufgabe ist, über den Abgrund zu gelangen – da erst auf deranderen Seite der Geist gefunden wird – dann müssen wires halt auch ertragen lernen, dass der Abgrund uns in derAngst anschaut, in uns hineinblickt, wie Nietzsche sagt.Wenn wir uns erholt und neu gerüstet haben, werden wirbereichert aus dieser Erfahrung zurückkommen.Was das betrifft, ist es sicher kein Zufall, dass Angst undFreiheit miteinander zusammenhängen. Selbstverständlich sind wir in der Angstattacke höchst unfrei. Aber dochlegt die Angst in uns gerade die Dimension bloß, die mitder Freiheit in die Welt gekommen ist. Die Götter konnten erst freie Menschen ins Weltall stellen, indem sie ihre eigene Göttlichkeit zurückgezogen haben. Die Freiheitkonnte nur durch ein Nicht-Wahrnehmen der geistigenWelt errungen werden. Das ist das Nichts, das sich am Ende des Mittelalters – zunächst noch im tröstlichen Schoßder Mystik – zuerst geltend machte. Die geistige Welt zogsich zurück, wie das Wasser am Strand nach einem Erdbeben. Der Mensch verlor den Geist, der ihn weckt. Damit ist deutlich, dass der Nihilismus nicht unversehens indie Welt kam. Die Leere ist gewollt. Erst in der Emanzipation von ihren Göttern konnte die Menschheit zu sichselbst kommen. Und da ist es nicht der Mensch, sondernstattdessen die Gottheit, die diese Emanzipation initiierte! Der griechische Kosmos ist geordnet und harmonisch, da die Götter noch in ihm erlebt wurden. Genaudas Gleiche gilt für das mittelalterliche Gemüt mit seinenEngeln. Zu Beginn der Moderne verschwinden Götter undEngel aus der Sicht – und zwar aus der Initiative der Götter selbst. Es ist nun die Sache des Menschen, am Steuerder Wirklichkeit zu sitzen. Der leere Raum, der damit entsteht, ist schauerlich, aber gleichzeitig der Vorbote vonetwas Neuem. Denn aufgrund der Initiative der Gottheit,sich zurückzuziehen, entsteht der Raum für die Initiative des Menschen. Initiation und Initiative sind nicht zufällig miteinander verwandt. Die wahrhaft freie Tat, daswahrhaftige Initiieren, ist – so Rudolf Steiner – nichtsanderes als eine »creatio ex nihilo«, eine Schöpfung ausdem Nichts.6 Eine freie Tat ist eine Tat ohne Ursache: eine Tat, die sich durch nichts erklären lässt, was ihr vorausging. Die freie Tat ist keine Folge, sondern eine Ursache – eine Frage an den Kosmos, die auf Antwort wartet.Da muss sich der Mensch in Geduld üben. Ohne Stille derGötter keine Freiheit. Das ist das geheime Credo des Nihilismus. Die geistige Welt steuert uns in das Nichts, sodasswir am anderen Ende des Nichts uns selbst finden, freiund selbstbewusst, als Bausteine für eine nachfolgendeWelt. Angst ist hierbei eine notwendige Nebenerscheinung. Angst ist ein Katalysator der Freiheit. Noch einmal Heidegger. »Die Angst offenbart im Dasein das Seinzum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für dieFreiheit ( ).«7 Damit ist gezeigt, dass die Angst unserLeben nicht unmöglich machen muss, aber im Gegenteilgerade eine Möglichkeit bietet. Die Möglichkeit, unsereureigenste Aufgabe zu ergreifen: frei zu sein in der Apokalypse und schöpfend aus dem Nichts uns selbst und dieWelt aufs Neue einander anzuvertrauen.Dieser Aufsatz wurde zunächst unter dem Titel »Ongeborgenin de onthulling: de poorten van de leegte« in der niederländischen Zeitschrift der Christengemeinschaft »In beweging« veröffentlicht. Die Übersetzung besorgte Carolin Ott.6 GA 107 Geisteswissenschaftliche Menschenkunde, 19. Vortrag5 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Absatz 407 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Absatz 40

13Nichtsein schöpferischer AufbruchChristian Scheffler , SeminarleiterLange Zeit schon beschäftigen mich Sachverhalte ausder projektiven Geometrie. Historisch weiter zurückliegend finden sich Anregungen zu dieser Thematiku. a. bei Nicolaus von Cues.In seinen Darstellungen »De docta ignorantia I CapitulumXIV« aus dem Jahre 1440 erscheinen eine ganze Reihe vonBeispielen. In diesem Sinne folgendes: man stelle sich einDreieck vor mit den Seiten a, b und c.abcabcDie Basis des Dreiecks (c) wird immer größer, der Winkelzwischen den Seiten (a) und (b) nähert sich immer mehr180 an.In einem besonderen Augenblick – und auf diesen kam esCusanus an – fallen die Seiten (a) und (b) mit der Basis(c) zusammen und werden unendlich. Dieser Moment istdenkbar, aber nicht mehr sinnlich darzustellen. Gehe ichdurch diesen Moment »hindurch«, so taucht von der »anderen« Seite das Dreieck wieder auf. Nicolaus Cusanus hatdas auf weitere geometrische Formen bis hin zur Körperform der Kugel angewandt, es durchdacht und sein Durchdenken als Erlebnis, als gemachte Erfahrung, erfasst.Aufmerksam werde ich dabei nicht nur auf den Durchdenker – mich selbst – sondern auch auf Themen wie: Punktund Umkreis, Zentrum und Peripherie, Mittelpunkt undUmraum.Eine wunderbare Darstellung dazu ist das 11. Kapitel ausdem sehr anregenden Kompendium von Prof. WolfgangSchad »Der periphere Blick« (erschienen 2014 im VerlagFreies Geistesleben).Dieses Buch ist in vieler Hinsicht eine echte Freude und imGrunde eine methodische Übungsanleitung, die mir gerade für den Beruf des Priesters, des Gemeindepfarrers, desSeelsorgers außerordentlich wichtig ist. Warum?Wenn wir ein Problem in den Blick nehmen, so haben wiroft den zentrischen Blick. Die Analyse wird immer

einem kurs mit Johannes Lauten die Sakramente im umkreis des Todes be-schäftigt und dabei waren auch die Worte des kinderbegräbnisrituals er-klungen. Die Würde und ruhe, in der das geschehen war, taten sich nun auf als ein raum, in den ich erin-nernd eintreten ko