Transcription

LeseprobeDr. Konrad StaussDie heilende Kraft derVergebungDie sieben Phasen spirituelltherapeutischerVergebungs- undVersöhnungsarbeit - MitVorworten von JoachimBauer und MichaelKlessmannBestellen Sie mit einem Klick für 24,00 Seiten: 272Erscheinungstermin: 04. Oktober 2010Mehr Informationen zum Buch gibt es auf

www.penguinrandomhouse.deInhalte Buch lesen Mehr zum AutorZum BuchTiefe seelische Verletzungen bedürfen einer Heilung umfassender Art:Therapeutische Bemühungen und seelsorgliche Zuwendungen wissen umdie lösende Kraft von Vergebung und Versöhnung. Dr. Konrad Stauss,erfahrener Psychotherapeut, stellt in diesem Buch ein überzeugendesKonzept therapeutisch-spiritueller Versöhnungsarbeit vor. BahnbrechendeAuskünfte für Psychotherapie, Seelsorge, Erwachsenenbildung undindividuelle Erfahrungswege.AutorDr. Konrad StaussDr. Konrad Stauss war Arzt für Neurologie,Psychiatrie und psychosomatische Medizin. Ergründetet die »Klinik für Psychosomatische Medizin«in Bad Grönenbach, die er von 1979 bis 2000 alsärztlicher Direktor leitete. Dr. Konrad Staussverstarb im August 2016.

Konrad StaussDie heilende Kraftder VergebungStauss.indd 120.08.2010 10:40:59

Konrad StaussDie heilende Kraftder VergebungDie sieben Phasenspirituell-therapeutischerVergebungs- und VersöhnungsarbeitMit Vorworten von Joachim Bauerund Michael KlessmannKöselStauss.indd 320.08.2010 10:41:02

MixProduktgruppe aus vorbildlich bewirtschaftetenWäldern und anderen kontrollierten Herkünftenwww.fsc.org Zert.-Nr. SGS-COC-001940 1996 Forest Stewardship CouncilVerlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte PapierMunken Premium Cream liefert Arctic Paper Munkedals AB,Schweden.Copyright 2010 Kösel-Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlag: griesbeckdesign, MünchenUmschlagmotiv: gettyimages/BrandXpictures/Don BishopDruck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in GermanyISBN 978-3-466-36892-1Weitere Informationen zu diesem Buch und unseremgesamten lieferbaren Programm finden Sie unterwww.koesel.deStauss.indd 420.08.2010 10:41:02

InhaltVorwortvon Prof. Dr. Joachim Bauer .11Vorwortvon Prof. Dr. Michael Klessmann.16Religion und Wissenschaft –Ein kreativer Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . .19Weltanschauliche Grundlagen der Vergebung28Die ›Variable‹ Gott bleibt unberücksichtigt . . . .29Welche Menschenbilder gibt es? . . . . . . . . . . . . . . . . .31Religion versus Psychotherapie: Der Kampf umdie Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .36Grenzen wissenschaftlicher Menschenbilder . . . . . . . . .38Der Vergebungsprozess im christlichenVerständnisrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .41Das christliche Menschenbild . . . . . . . . . . . . . .41Beziehungssein als Urweise des Seins . . . . . . . . . . . . .44Die trinitarische Grundfigur der Beziehung . . . . . . . . .49Vergebungsverständnis im Alten und NeuenTestament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .52Gibt es Bedingungen für die göttliche Vergebung? . . . .55Stauss.indd 520.08.2010 10:41:02

Stauss.indd 6Formen der Vergebungs- und Versöhnungsarbeit65Säkular orientierte Vergebungs- und Versöhnungsarbeit. .65Psychotherapeutische und biblischeGrundlagen zur Heilung von Beziehungsverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .75Die sieben Phasen auf dem Weg zum ReichGottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .75Der Unschuldswahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .76Täter-Opfer-Täter-Reigen –der Wiederholungszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . .80Befreiung aus dem Täter-Opfer-Täter-Reigen . . . . . . . . .84Die drei Grundbeziehungen in derVergebungsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .91Beziehung zum Ewigen Du . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .93Barmherzigkeit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .94Vergebung und Barmherzigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . .95Das Reich Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .97Eine spirituelle Evolutionslehre . . . . . . . . . . . . . . . .98Umgang mit seelischen Verletzungen ausspiritueller Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .101Passion des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .104Reinigung des Herzens – puritas cordis . . . . . .106Die christliche Form der Selbstverwirklichung .10820.08.2010 10:41:02

Praxis der Vergebungsund Versöhnungsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . .114Vergebung – Verzeihen – Versöhnen . . . . . . . . .114Vergebung im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .115Vorschnelle Vergebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .116Die Last der Nichtvergebung – die Frucht derVergebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .118Diagnostische Hinweise für Vergebungs- undVersöhnungsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .121Sieben Phasen des Vergebungs- undVersöhnungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .123Drei Varianten der Vergebungs- und Versöhnungsarbeit124Vergebung und Versöhnung imtherapeutischen Prozess, in der Erwachsenenbildung und als geistliche Übung . . . . . . . 127Vergebungs- und Versöhnungsarbeit in derPsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .128Die sieben Phasen der Vergebungsarbeit . . . . . .128Vorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1301. Phase: Die traumatische Schlüsselszene und ihreAuswirkung auf die Beziehungsgestaltung . . . . . . . .1312. Phase: Heilung der Ich-Beziehung – Reinigung desHerzens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1423. Phase: Heilung der Du-Beziehung . . . . . . . . . . . . . .1444. Phase: Heilung der Beziehung zum Ewigen Du –zu Gott. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .147Stauss.indd 720.08.2010 10:41:02

Stauss.indd 85. Phase: Das Vergebungsritual . . . . . . . . . . . . . . . . .1526. Phase: Aufrechterhaltung der Vergebung . . . . . . . . .1547. Phase: Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .156Fallbeispiel: Suchtproblem und sexueller Missbrauch. . .159Lebensrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .160Die Phasen der Vergebungsarbeit von Johannes A. . . . .164Vergebungs- und Versöhnungsarbeit in derErwachsenenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . .200Vorbedingungen und Zeitrahmen . . . . . . . . .200Vorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .2011. Schritt: Das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohnals Rahmenhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .2012. Schritt: Rembrandt van Rijn, Der verlorene Sohn –Bildbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .2083. Schritt: Das persönliche Vergebungsthema und dieHinweise, die für eine Vergebungsarbeit sprechen . . .212Die sieben Phasen der Vergebungsarbeit . . . . .2131. Phase: Die traumatische Schlüsselszene . . . . . . . . .2132. Phase: Heilung der Ich-Beziehung . . . . . . . . . . . . .2143. Phase: Heilung der Du-Beziehung . . . . . . . . . . . . .2144. Phase: Heilung der Beziehung zum Ewigen Du . . . . .2175. Phase: Das Vergebungsritual. . . . . . . . . . . . . . . . .2196./7. Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21920.08.2010 10:41:02

Vergebung und Versöhnung alsgeistliche Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .221Sieben Phasen der verbungsorientierten Arbeitals geistliche Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .221Leben in Fülle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .223Bildbetrachtung: Rembrandt van Rijn,Die Heimkehr des verlorenen Sohnes . . . . . . . . .225Figürliche und räumliche Bildbetrachtung . . . . . . . . . .225Farbliche Bildbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .227Die sieben Phasen der Vergebungsarbeit . . . . . .2371. Phase: Vorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .2372. Phase: Die traumatische Schlüsselszene und ihreAuswirkung auf die Beziehungsgestaltung . . . . . . . .2433. Phase: Heilung der Ich-Beziehung – Reinigung desHerzens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .2444. Phase: Heilung der Du-Beziehung . . . . . . . . . . . . . .2455. Phase: Heilung der Beziehung zum Ewigen Du –zu Gott. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .2476. Phase: Das Vergebungsritual . . . . . . . . . . . . . . . . .2487. Phase: Aufrechterhaltung der Vergebung . . . . . . . . .250Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .252Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .255Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .255Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .264Stauss.indd 920.08.2010 10:41:02

Vorwortvon Prof. Dr. Joachim BauerOb es Sinn hat, über das Thema Vergebung nachzudenken,hängt in der Tat von unserem Menschenbild ab. Auf diesenPunkt weist Konrad Stauss gleich zu Beginn seines Buches zuRecht hin. Warum? Menschenbilder versuchen eine Antwortauf die Frage zu geben, wie wir glauben, dass der Mensch ›funktioniere‹. Allerdings sind – darauf werde ich nachfolgend eingehen – anthropologische Annahmen keineswegs das Produkteines Beliebigkeits- oder Willküraktes. Man kann sich – willman nicht alsbald als Idiot vorgeführt werden – ein Menschenbild nicht nach eigenem Gutdünken erfinden, sondern muss esauf starke Evidenzen gründen. Gesetzt den Fall, wir würdendavon ausgehen, der Mensch sei ein im Wesentlichen durch einen primären ›Aggressionstrieb‹ und durch ›egoistische Gene‹gesteuertes Wesen, dann wäre das Konzept der Vergebung derVersuch, dem Menschen eine seiner Natur im Grunde zuwiderlaufende Übung anzutrainieren. Ich möchte nachfolgendausführen, warum ich glaube, dass es sich beim Konzept derVergebung keineswegs um den Versuch handelt, einem Reitpferd den Galopp im Rückwärtsgang beizubringen, sondern imGegenteil darum, die Zügel zu lösen, die einen Galopp nachvorn behindern.Wie also funktioniert der Mensch, was sind seine Grundmotivationen? Den meisten unbekannt ist, dass Charles Darwin in seinem 1872 erschienenen Werk The Expression of Emotions in Man and Animals die Empathie als den stärkstenmenschlichen Trieb (›Instinct‹) bezeichnet hat (Näheres dazusiehe1). Was sich in der Darwin-Rezeption, die in keinem Landderart intensiv wie in Deutschland war, in den Jahren zwischen1870 und 1933 aber durchsetzen sollte, war nicht Darwins11Stauss.indd 1120.08.2010 10:41:02

Statement über die zentralen empathischen Instinkte des Menschen, sondern seine allgemeinen Überlegungen zur Selektionund zum Artenkampf (›War of Nature‹), wobei er Letzteren irrigerweise als das Hauptinstrument der Selektion ansah. ›DenMenschen als Individuum‹ sah Darwin also als ein durch Empathie geleitetes Wesen (die menschliche Aggression erkannteDarwin eindeutig als reaktives Phänomen). ›Den Menschen alsSpezies‹ (als ›Rasse‹) sah er dagegen im Kampf ums Überlebenstehend. Wolle er nicht degenerieren, so müsse der Mensch›einem permanenten heftigen Kampfe ausgesetzt bleiben‹, soDarwin in seinem 1871 erschienenen Werk The Descent of Man(Näheres dazu siehe2).Maßgeblichen Anteil an der geradezu bizarr einseitigenDarwin-Rezeption in Deutschland nach 1870 hatten der deutsche Mediziner und Biologe Ernst Haeckel und seine ebensoeinflussreichen Epigonen, die einen nicht geringen Beitrag zudem leisteten, was 1933 folgen sollte (siehe3). Haeckel begründete, was bis heute als ›Darwinismus‹ bezeichnet wird, nämlichden Versuch, Darwins Erkenntnisse zur Grundlage einer Weltanschauung zu machen. Ethische Prinzipien, die den Kern derjüdisch-christlichen Tradition, aber auch des Humanismus imGefolge der Aufklärung bildeten, insbesondere das gleiche Lebensrecht aller Menschen und die Pflicht der Starken zur Unterstützung der Schwachen, galt jetzt als ›Gefühlsduselei‹. Alsethisch sollte von nun an nur das gelten, was der Selektion, d.h.der Auslese der angeblich Tüchtigsten, nicht zuwiderlief. Haeckel war Ehrenmitglied der 1905 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene, der ein Großteil der damaligendeutschen naturwissenschaftlichen Elite angehörte.Einem Mann wie Sigmund Freud, der Darwin – und dessen in The Expression of Emotions nachzulesende frühe Hinweise auf die Dynamik unbewusster Vorgänge – intensiv rezipiert hatte, war der rassistische Dünkel seiner Zeit zuwider.Unter dem Eindruck der begeisterten Hysterie, mit der die Völker Europas in den Ersten Weltkrieg gezogen waren, stellteFreud dem menschlichen Liebestrieb (›Libido‹) in seinem 1920erschienenen Text Jenseits des Lustprinzips den ›Aggressions-12Stauss.indd 1220.08.2010 10:41:02

trieb‹ an die Seite. Der Massenwahn der Hitlerjahre, die folgensollten, schien diesem Konzept Recht zu geben. In seinem1963 erschienenen Buch Das sogenannte Böse radikalisierteKonrad Lorenz, der seine Karriere in den Nazijahren gemachthatte und in Interviews noch Jahre nach dem Zusammenbrucherstaunlich nazistisches Gedankengut von sich gab, das Konzept des Aggressionstriebes. Sich ausdrücklich – und insoweitdie Sachlage krass verfälschend – auf Darwin und Freud beziehend, bezeichnete Lorenz die Aggression nicht nur als zentralen menschlichen Trieb, sondern definierte Liebe und Bindungexplizit als Abkömmlinge umgeleiteter, auf etwas Drittes gerichteter Aggression. Nur dort, wo starke Aggression sei, soLorenz explizit, könne es Liebe und Bindung geben (Näheressiehe4).Erstaunlicherweise fand Lorenz’ Aggressionskonzept indeutschen psychoanalytischen Kreisen in den Nachkriegsjahren nachhaltigen Zuspruch – mit fatalen, erst in jüngster Zeitsich abschwächenden negativen Folgen für die psychoanalytische Theorie und Behandlungspraxis. Auch die Generationder 68er und Nach-68er hatte mit diesem anthropologischenKonzept erstaunlicherweise kein Problem, wobei man sich hieraber weniger auf Freud oder Lorenz, sondern vorzugsweise aufdie Milgram-Experimente stützte. In der 68er- und Nach-68erZeit, die ich selbst miterlebte, war es Mode, auch dann weitreichende Einschätzungen abzugeben, wenn man keinerlei Faktenwissen hatte. So verhielt es sich auch hinsichtlich derMilgram-Experimente. Diese zeigten nämlich keineswegs, wiedamals – und noch heute von manchen ergrauten Altlinken –gern behauptet, dass Menschen Freude daran haben, andereMenschen zu quälen, ganz im Gegenteil. Nur wenn massiverDruck ausgeübt wurde, waren Milgrams Testpersonen bereit,anderen Menschen – als ›Strafe‹ für eine ungenügende Testleistung – Schmerz zuzufügen. Auch dass ein Großteil derer, diedem Druck nachgegeben und anderen Schmerzen zugefügthatte, später psychologische Behandlung in Anspruch nehmenmusste, wird bei Diskussionen über Stan Milgrams Experimente regelmäßig ausgeblendet (Näheres zu Milgrams Experi-13Stauss.indd 1320.08.2010 10:41:02

menten und zur Frage menschlicher Aggression siehe5). DenSchlussstein zum Konzept eines in seinen Grundmotivationenaggressiven, egoistischen Menschen bildet Richard Dawkins’neodarwinistische Ideologie von den angeblich ›egoistischenGenen‹6.Vergebungsakte bei einem Lebewesen, zu dessen innersten natürlichen Motivationen es gehört, anderen Schaden zuzufügen, wären ein reichlich sinnloses Unterfangen. Ebensokönnten wir den Versuch unternehmen, Hungernden beizubringen, sich nach endlich erfolgter Nahrungsaufnahme dafürzu entschuldigen, gegessen zu haben. Unsere Zeit hat mitRecht genug von scheinheiligen Prozeduren dieser Art. Nein,das Vergebungskonzept hat nur deshalb Sinn, weil sich die aufden ›Aggressionstrieb‹ und die angeblich ›egoistischen Gene‹basierenden anthropologischen Annahmen als wissenschaftlich unhaltbar erwiesen haben7. Die epochale Wende unseresanthropologischen Denkens wurde eingeleitet durch die Ergebnisse der mit den Namen John Bowlby und Mary Ainsworth verbundenen Bindungsforschung. Nähe und Bindungerwiesen sich als primäre Grundmotivationen des Menschen.Eine endgültige Bestätigung der Erkenntnisse der Bindungsforschung erfolgte durch die moderne Neurobiologie: Näheund soziale Akzeptanz sind, ausweislich einer entsprechendenAusrichtung der sogenannten Motivationssysteme des menschlichen Gehirns, zentrale menschliche Triebziele (siehe8). Darwins ›Instinkt der Empathie‹ fand insoweit also – ebenso wieFreuds ›Libido‹ – in den letzten Jahren eine eindrucksvolle Bestätigung.Doch wozu Vergebung? Ungeachtet der auf Bindung undsoziale Akzeptanz gerichteten Kernmotivation des Menschenbleibt die Aggression eine sowohl neurobiologisch verankertewie auch psychologisch offensichtliche Tatsache9. Wir Menschen leben seit Menschengedenken (d.h. seit wir uns selbst zureflektieren in der Lage sind) in einer realen Welt der knappenRessourcen. Ressourcenknappheit bedingt, dass wir in Wettstreit miteinander geraten. Ungeachtet seiner auf Akzeptanzzielenden Motivationen ist der Mensch in einer Situation14Stauss.indd 1420.08.2010 10:41:02

knapper Ressourcen kein mit hinreichenden prosozialen Verhaltensautomatismen ausgestattetes Wesen. Ressourcenmangel aktiviert aggressive Potenziale, denn in der Sicherung vitaler Ressourcen liegt – neben der Bewahrung der körperlichenUnversehrtheit – der evolutionäre ›Zweck‹ der Aggression. Aggression führt, wenn nicht zu Verletzung oder Tod, so doch zumindest zur Ausgrenzung anderer Menschen. Da soziale Ausgrenzung wie die Zufügung körperlicher Schmerzen erlebt unddaher mit erneuter Aggression beantwortet wird10, ergebensich im menschlichen Zusammenleben fatale Aggressionskreisläufe.Das menschliche Dilemma lässt sich wie folgt beschreiben:Wir sind nicht dafür ›gemacht‹, unter Bedingungen fortgesetzter Aggression zu leben. Tatsächlich werden wir unter solchenBedingungen erwiesenermaßen krank, ja unsere Lebensdauerverkürzt sich unter der fortgesetzten Einwirkung von Aggression und Stress. Dennoch wird die Aggression der ewige Begleiter menschlicher Gesellschaften bleiben. Einengende Kontexte, insbesondere der Mangel an Ressourcen – wobei auch dieLiebe für Menschen eine vitale Ressource ist –, bringen uns immer wieder in Situationen, in denen wir aggressiv agieren, alsoandere seelisch oder körperlich verletzen. Indem wir dies tun,entfremden wir uns jedoch von unseren inneren Grundmotivationen, die auf Nähe, Bindung und soziales Einvernehmengerichtet sind. Dies bedeutet: Wir entfremden uns im Momentdes aggressiven Handelns von uns selbst – so scheinbar ›begründet‹ aggressives Handeln im Einzelfall auch gewesen seinmag. Es bedarf kultureller ›Techniken‹, dieser Selbst-Entfremdung des Menschen entgegenzuwirken. Als eine besonders bedeutsame ›Technik‹ in diesem Sinne ist die Fähigkeit des Menschen anzusehen, sich gegenseitig zu vergeben.August 2009Joachim Bauer15Stauss.indd 1520.08.2010 10:41:02

Vorwortvon Prof. Dr. Michael KlessmannDas Wort Vergebung bezeichnet einen für den christlichenGlauben sehr zentralen Vorgang: Christinnen und Christenglauben, dass Gott, das Geheimnis oder die Quelle des Lebens,im Letzten ein liebender, ein barmherziger, ein vergebenderGott ist – auch wenn unsere Welt- und Lebenserfahrungendem tagtäglich zu widersprechen scheinen. Und weil Gott demMenschen Sünde und Schuld vergibt, sind die Menschen ihrerseits aufgefordert, die göttliche Vergebung im Glauben anzunehmen und in einem weiteren Schritt nun auch einanderzu vergeben, ihr Zusammenleben also nicht auf die spontanenImpulse von Rache und Vergeltung aufzubauen, sondern aufden komplexen und durchaus anspruchsvollen Prozess derVergebung und Versöhnung hin auszurichten. Der vielleichtam weitesten verbreitete und bekannteste Text des christlichenGlaubens, das Vaterunser, benennt den angedeuteten Zusammenhang in der Anrede an Gott kurz und knapp: ›Vergib unsunsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.‹Wenn man sich klar macht, wie zentral diese Vorstellungfür den christlichen Glauben ist, nimmt es umso mehr wunder,dass Praktische Theologie und Religionspsychologie bisher derPraxis der Vergebung relativ wenig Aufmerksamkeit gewidmethaben. In der Dogmatik nimmt die Entfaltung des Themas Vergebung im Kontext der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade natürlich einen festen Platz ein. In derscholastischen Theologie des Mittelalters hat man eine psychologisch kluge Abfolge des Vergebungsprozesses beschrieben:Am Anfang steht die contritio cordis, die Reue, die Zerknirschung des Herzens; auf sie soll die confessio oris folgen, dasBekenntnis des Mundes, man muss also Verfehlung und Reue16Stauss.indd 1620.08.2010 10:41:02

konkret beim Namen nennen und aussprechen; erst darauf solldie absolutio verknüpft mit der satisfactio operis, der Bereitschaft zur tatkräftigen Wiedergutmachung, erfolgen. Bei dieserSystematik ist man jahrhundertelang stehengeblieben. Wie sichVergebung konkret vollziehen kann, welche einzelnen Schrittenotwendig sind, um den Prozess möglichst wirksam zu gestalten, welche heilsamen Auswirkungen daraus erwachsen können, mit welchen Widerständen und Schwierigkeiten aber auchzu rechnen ist, und wie das Ganze so zu systematisieren wäre,dass man Menschen, die gerne vergeben möchten, sich jedochaus inneren Gründen dazu nicht in der Lage sehen, in Psychotherapie oder Seelsorge entsprechend anleiten und unterstützen kann, darüber haben sich sowohl Dogmatiker wie Praktische Theologen bisher eher selten den Kopf zerbrochen. Inreligiöser Erbauungsliteratur gibt es vielfältige Hinweise auf dieNotwendigkeit der Vergebung, Religionspsychologie und Seelsorgeliteratur beschäftigen sich eher knapp mit dem Thema –ohne, was die Methodik und den Ablauf angeht, wirklich konkret und detailliert zu werden.Einen Fortschritt in der theologischen und empirischenBearbeitung des Themas stellt die Dissertation von Beate M.Weingardt dar mit dem Titel wie auch wir vergeben unserenSchuldigern. Der Prozess des Vergebens in Theorie und Empirie(Stuttgart 2000). In dieser Studie wird vor allem der Prozesscharakter von Vergebung herausgearbeitet. Aus Befragungenund Interviews von etwa 20 Personen lässt sich entnehmen,wie die Betroffenen es erleben, wenn sie Vergebung gewährenbzw. annehmen, welche positiven, befreienden Auswirkungen,aber auch welche Schwierigkeiten sie mit diesem Geschehenverbinden.Das vorliegende Buch von Konrad Stauss geht noch entscheidende Schritte weiter.Zunächst erscheint es erstaunlich, dass ein Arzt und klinisch tätiger Psychotherapeut sich mit diesem traditionell religiösen Thema beschäftigt. Stauss beschreibt, wie er in der therapeutischen Arbeit mit Alkoholikern, genauer durch das12-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker, auf die spi-17Stauss.indd 1720.08.2010 10:41:02

rituelle Dimension des Heilungsprozesses gestoßen ist. WennMenschen tiefgehende Beziehungsverletzungen erleiden, durchdie sie aus Opfern zu Tätern werden, die wiederum neue Opferschaffen, dann kann eine Heilung nur umfassend sein, wennsie, mit Martin Buber gesprochen, die Beziehung zum Ich, zumDu und zum Ewigen Du, zum Absoluten, zu Gott, gleichermaßen mit einbezieht. Es gibt inzwischen genügend empirischeForschung, die belegt, dass der Prozess der Vergebung den Täter-Opfer-Täter-Kreislauf unterbrechen und heilende Wirkungen entfalten kann. Anknüpfend an diese Erkenntnisse undauf der Basis bestimmter Grundzüge eines christlichen Menschenbildes (der Mensch als Beziehungswesen, der die Beziehungshaftigkeit des dreieinen Gottes gleichsam abbildet) hatder Autor ein siebenphasiges Vergebungs- und Versöhnungsmodell in drei Varianten entwickelt: Die erste Variante skizzierteine vergebungsorientierte Psychotherapie, die zweite einenVergebungsprozess, der im Kontext von Seelsorge oder Erwachsenenbildung stattfinden könnte, der dritte Weg entfaltetden Vergebungsprozess als geistliche Übung für Einzelne anhand der Meditation von Rembrandts Bild zum Gleichnis vomverlorenen Sohn.Der Schlüssel zur Überzeugungskraft des Buches liegtnach meinem Eindruck im interdisziplinären Zugang, den derAutor für das Thema gewählt hat und den er in seiner Personals Arzt und engagierter Christ gleichsam verkörpert. Zentralechristliche Begriffe sind in der Gegenwart nicht mehr reintheologisch zu explizieren, sondern bedürfen der psychologischen oder soziologischen Entfaltung und Plausibilisierung.In diesem Sinn erscheint mir das Buch nicht nur als eine guteHilfe für eine befreiende Psychotherapie und Seelsorge mitMenschen, die sich in ihrer Vergangenheit gefangen fühlen,sondern zugleich auch als ein gelungenes Beispiel für die Neuinterpretation christlicher Glaubenssätze.März 2010Michael Klessmann18Stauss.indd 1820.08.2010 10:41:02

Religion und Wissenschaft–Ein kreativer DialogVielleicht werden Sie sich beim Lesen dieses Buches fragen:Wie kommt ein klinisch tätiger Psychotherapeut dazu, sich mitdem Thema Vergebung auf dem Hintergrund des christlichenMenschenbildes zu beschäftigen? Zur Beantwortung dieserFrage einige Anmerkungen.Ich bin ein Psychotherapeut, der in der psychodynamischen Psychotherapie ausgebildet worden ist. Die psychodynamische Psychotherapie geht von der Grundannahme aus,dass seelische Störungen im Wesentlichen ihre Ursache in biografisch erworbenen Bindungs- und Beziehungsverletzungenhaben. Die Tragik der Menschen, die häufige und sich wiederholende Bindungs- und Beziehungsverletzungen erlitten haben, liegt darin, dass sie diese Verletzungen verinnerlichen unddiese unbewusst in ihren jetzigen Beziehungen wiederholen.Die Wiederholung durch unbewusste Reinszenierungen dieserVerletzungen nennt man Wiederholungszwang.Durch den Wiederholungszwang wird das frühere Opferder Bindungs- und Beziehungsverletzungen unbewusst in seinen jetzigen Beziehungsgestaltungen zum Täter, ohne dass esden eigenen Anteil an der Reinszenierung erkennen kann. Diesaus dem Grund, weil die Wiederholung völlig unbewusst geschieht. Das Bewusstwerden der eigenen Urheberschaft amreinszenierten Beziehungskonflikt wird abgewehrt, indem manprojektiv dem anderen die Schuld für den Beziehungskonfliktzuschreibt.Das ehemalige Opfer als jetziger unbewusster Täter erlebtsich als Opfer der anderen. Darin liegt die tragische Verstrickung der dysfunktionalen menschlichen Beziehungsgestaltung. Hinzu kommt, dass wir heute durch die Ergebnisse der19Stauss.indd 1920.08.2010 10:41:02

Bindungsforschung wissen, dass erlittene Bindungs- und Beziehungsverletzungen durch den Mechanismus der Verinnerlichung und Reinszenierung über die Generationsgrenzen hinweg unbewusst weitergegeben werden. Die Folge davon ist einezunehmende neurotische Beziehungsverelendung.Die psychodynamische Psychotherapie und die davon abgeleiteten Verfahren (Gestalttherapie, Transaktionsanalyse,Bondingpsychotherapie etc.) haben in ihrer Theorienbildungund in ihrem Interventions- und Veränderungswissen zeigenkönnen, dass es möglich ist, sich aus diesem Teufelskreis zu befreien. Diese Befreiung, die mit einer Verbesserung der Bindungs- und Beziehungsgestaltung einhergeht, steht mit einerdeutlichen Abnahme der klinischen Symptomatik und der Zunahme der Lebenszufriedenheit in Wechselwirkung.Der Schwerpunkt der Behandlung mit psychodynamischen Verfahren ist die Beziehungsgestaltung in ihren gelungenen und weniger gelungenen Formen. Bei vielen meiner Patienten* erlebte ich im Verlauf der Therapie, dass mit derzunehmenden besseren Bewältigung ihrer zwischenmenschlichen Probleme auch die Frage nach der Beziehung zu einemtranszendenten Absoluten auftauchte. Uslar11 hat diese Erfahrung der Transzendenz folgendermaßen beschrieben: »Es gibtetwas in uns, worin wir unser eigenes Sein transzendieren, etwas, wo wir uns selbst überschreiten und eine Beziehung zueinem Absoluten haben, das wir nicht selbst sind und das dochzu unserem Sein gehört.« Diese Fragen der Klienten waren genuin spirituelle oder religiöse Fragen. Auf diese Fragen hat diepsychodynamische Psychotherapie als wissenschaftliche Disziplin keine Antwort. Sie kann nur Solidarität im soliden Elendanbieten. Freud hat dies so formuliert: »Die Absicht, dass derMensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten.«*Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden darauf verzichtet, diejeweils weibliche Form von Patient, Psychotherapeut, Seelsorger etc. zu nennen, auch wenn dies eine die Wirklichkeit nicht reflektierende Form ist. Autorund Verlag bitten um Verständnis.20Stauss.indd 2020.08.2010 10:41:02

Einen entscheidenden Impuls zur Erweiterung meinerrein wissenschaftlichen, das heißt weltlichen Sicht des Menschen bekam ich durch meine alkoholkranken Patienten, diedurch das 12-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker(AA) von ihrer Alkoholkrankheit nachhaltig genesen waren.Das 12-Schritte-Programm ist ein spirituelles Genesungsprogramm. Die Anonymen Alkoholiker und die daraus abgeleiteten Gruppen bezeichneten ihre Beziehung zum Absoluten alsihre Beziehung zu einer ›Höheren Macht‹. Durch ihre Beziehung zu dieser Höheren Macht wurden sie von ihrer Alkoholsucht befreit.Ich erfuhr durch diese Gruppen erstmals, dass nicht nurdurch die Verbesserung der Beziehung zu dem eigenen Selbstund zu anderen – also durch die Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehungen –, sondern auch durch die Verbesserung der Beziehung zum Absoluten nachhaltige Genesungenmöglich wurden.Damit wurde mein Menschenbild um die spirituelle Beziehungskomponente erweitert. Eine umfassende Heilung von seelischen Störungen bedarf nicht nur der Heilung der Beziehung zusich selbst und zu anderen, sondern auch eine Heilung der Beziehung zum Absoluten, das die AA als ›Höhere Macht‹ und in derreligiösen Sprache als die Beziehung zu Gott bezeichnet wird.Martin Buber, der jüdische Religionsphilosoph, hat diesenBeziehungsraum, der durch die drei Beziehungskoordinatengeschaffen wird, als Beziehung zum Ich, Beziehung zum Duund Beziehung zum Ewigen Du bezeichnet.In der weiteren Auseinandersetzung mit der spirituellenBeziehung zum Ewigen Du stieß ich auf den christlichen Sündenbegriff. Dieser besagt, dass Sünde die Störung oder Zerstörung von Beziehungen in diesem oben beschriebenen dreifachen Sinne bedeutet: die Störung oder Zerstörung derBeziehung zum eigenen Selbst, zu den anderen und zu Gott

Psychiatrie und psychosomatische Medizin. Er gründetet die »Klinik für Psychosomatische Medizin« in Bad Grönenbach, die er von 1979 bis 2000 als ärztlicher Dir